Zwischen Scham und Tourismus-PR
Österreich rüstet sich für den Jahrhundertprozess zum Inzestverbrechen von Amstetten. Fritzls Heimatstadt Amstetten und der Gerichtsort St. Pölten bereiten sich sehr unterschiedlich auf das Ereignis vor.
Eine Stadt stellt sich taub. Im adrett herausgeputzten, etwas verschlafenen Amstetten ist von der üblichen Gastfreundschaft wenig zu spüren. Eine Umfrage auf dem Hauptplatz wird zum Spiessrutenlauf: «Ham S kane andern Sorgen?», schimpft eine etwa vierzigjährige Frau unwirsch auf die Frage, inwiefern der «Jahrhundertfall Fritzl» das Klima der Stadt verändert habe. Ein Rentner schnarrt spöttisch: «Frogn S mi wos Leichteres.» Andere laufen mit bösen Blicken wortlos weiter.
Selbst die weltlichen und geistlichen Repräsentanten der Kleinstadt zwischen Wien und Linz verweigern hartnäckig den Medienkontakt. «Der Herr Bürgermeister gibt keine Interviews mehr», schmettert die Vorzimmerdame im Rathaus Journalisten ab. «Wir von der Kirche haben dazu alles gesagt», tönt bereits am Telefon eine Stimme – die sich nicht einmal zu erkennen geben will – von der katholischen Stadtpfarrei St. Stephan.
Es ist nicht leicht für die 23000 Einwohner, das einzigartige Verbrechen und die Folgen zu verkraften: Als am 27. April 2008 bekannt wurde, dass der Bürger und Familienvater Josef Fritzl seine eigene Tochter Elisabeth 24 Jahre lang im Keller seines Hauses als Sexsklavin gefangen gehalten und mit ihr sieben Kinder gezeugt hatte, wurde die Kleinstadt ruckartig aus ihrer provinziellen Anonymität gerissen und in den Brennpunkt globalen Medieninteresses gerückt.
Sowohl in heimischen als auch ausländischen Medien haben die Amstettener viel Blödsinn und zahlreiche Beleidigungen über sich lesen und hören müssen. Besonders gestört hat sie, dass namentlich Privat-TV-Sender und Boulevardblätter laienhaft und hämisch in ihrer Region – die den heiteren Namen «Mostviertel» trägt – den «Abgrund der österreichischen Seele» orteten, aus dem Dämonen wie Fritzl hervorgingen. «Und jetzt beginnt mit dem Prozess der ganze Medienrummel von vorn», sagt auch Georg Schröder, Redaktionsleiter der «Niederösterreichischen Nachrichten» (NÖN); er zeigt Verständnis für das Abtauchen der Amstettener.
Ein älterer Herr in der Fussgängerzone gibt in seinem Zorn letztlich doch, wenn auch unbeabsichtigt, einen Einblick in die kollektive Befindlichkeit Amstettens im Jahr eins nach Fritzl: «Mir san net anders als wia olle andern.» Sagts und lässt den Fragesteller stehen. Allen voran kämpft Bürgermeister Herbert Katzengruber gegen die Stigmatisierung seiner Stadt. In einer schriftlichen Stellungnahme, die er anstelle von Interviews verteilen lässt, hält er fett gedruckt fest: «Es gibt keinen Kriminalfall Amstetten, sondern es handelt sich hierbei um das Verbrechen eines Einzelnen.» Die Kurzbotschaft: Fritzls kann es überall auf der Welt geben.
Lokalaugenschein in der Ybbsstrasse Nummer 40, dem Tatort. Das Mehrfamilienhaus steht verlassen da, die Polizei hat es nicht einmal abgeschirmt, eine Hecke verstellt den Blick auf den Haupteingang. Hier, hinter gesichtslosen, hässlich grauen Mauern, haben sich während mehr als zweier Jahrzehnte grauenhafte Dinge abgespielt, welche die Anklage mit den
Stichwörtern Mord, Sklavenhandel, Vergewaltigung, Freiheitsentzug, schwere Nötigung und Blutschande zusammenfasst. Schwer zu glauben, dass in diesem dicht überbauten Viertel, wo Haus an Haus steht, keiner der Nachbarn auch nur ein Anzeichen von alledem bemerkt hat.
Im Gegensatz zu vielen Amstettenern reagiert Günther Pramreiter, Besitzer eines kleinen Cafés gleich um die Ecke, auf Fragen überraschend entgegenkommend, obwohl er ständig von Journalisten belagert wird: «Ich kannte den Fritzl nur als Kunden, er kaufte bei mir manchmal Brot und Semmeln.» Sein Familienleben habe ihn nie interessiert. «Da waren ja auch immer andere Leute drin.» Mieter, die ständig gewechselt hätten, sodass man nie gewusst habe, wer zu wem gehöre. In der Lokalzeitung stand, viele der Nachbarn hätten für die Prozesswoche Ferien genommen, um einem erneuten Medienrummel zu entgehen. Pramreiter spürt es im Umsatz, «viele sind jetzt weg».
Ortswechsel: Anders als Amstetten will die niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten, die als Gerichtsstandort zum Handkuss kommt, den rund 200 Journalisten und 25 TV-Stationen aus aller Welt offensiv begegnen und den Jahrhundertprozess sogar für eine Werbekampagne nutzen. Bürgermeister Matthias Stadler scheint den Medienaufmarsch nachgerade zu geniessen: Über seine Marketingabteilung lässt er stolz verbreiten, in seinem Büro wachse «die Liste der Interviewanfragen stündlich». Der Fritzl-Prozess wird offen als «Medienereignis des Jahres» gefeiert, ohne das die Aufmerksamkeit für die diesjährige 850-Jahr-Feier nicht annähernd so hoch wäre. «St. Pölten hat das älteste Stadtrecht Österreichs», versäumt Peter Bylica, Sprecher des Bürgermeisters, nicht zu erwähnen.
Bylica gibt sich erstaunt über die Frage, wie St. Pölten den grössten Medienaufmarsch der Stadtgeschichte wohl bewältigen werde: «Wir haben Erfahrung mit Massenereignissen, 1996 war schon der Papst hier zur Einweihung des neuen Regierungsviertels.» Nach wenigen Minuten steht schon der nächste Besuch in der Tür, eine Fernsehreporterin aus London. Doch schwingt bei aller Gelassenheit auch Angst mit: «Die Stadt will Imageschaden abwenden», schreiben die «Niederösterreichischen Nachrichten». Man wolle vermeiden, dass nicht nur Amstetten, sondern auch St. Pölten künftig bloss mit dem Menschenmonster Josef Fritzl identifiziert werde. «So wie London einst mit Jack the Ripper», meint Eva Prischl vom städtischen Tourismusbüro. Sie organisiert Stadtbesichtigungen für die Medienleute, um deren Wartezeiten während der fünf Prozesstage zu verkürzen. Die rund 1000 Gästebetten seien seit Wochen ausgebucht, sagt Prischl. Doch mit einem dauerhaften «Fitzl-Effekt» rechne man lieber nicht.
Ein besonders degoutantes Beispiel seiner Geschäftstüchtigkeit bewies der Wirt von der «Hirschenstube»: Er hatte seinen Gästen ein «Fritzl-Schnitzl» offerieret und gleich auch ein Foto des «Horrorvaters» mit auf die Speisekarte gesetzt. Druck der Stadtregierung und eine Klagedrohung brachten den Wirt zur Besinnung: Tags darauf hiess das Angebot wieder ganz traditionell «Wiener Schnitzel».
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