
Eben noch fast überall Schulterklopfen für den Bundesrat und kollektiver Stolz darauf, wie die Schweiz die erste Welle überstanden hat – und nun das: Unter Zeitdruck muss die Landesregierung in sonntäglicher Krisenarbeit mit Subitomassnahmen dagegen ankämpfen, dass unser Land definitiv zu einem Corona-Hotspot wird. Inzwischen liegt die Schweiz bei den Neuinfektionen nahe bei Grossbritannien, wo die Dinge ausser Kontrolle geraten, während etwa Italien, Schweden und Deutschland weit besser dastehen.
Schon halten einige einen neuen Lockdown für unvermeidlich. Die im Frühsommer beschlossenen Lockerungen werden im Nachhinein als überstürzt kritisiert und die am Sonntag beschlossenen Einschränkungen für zu lasch befunden. Doch zum Glück lässt sich der Bundesrat nicht von der irrigen Vorstellung leiten, das Virus lasse sich in absehbarer Zeit aus der Welt schaffen; viel klüger bleibt die Strategie, mit dem Virus leben zu lernen, bis ein Impfstoff da ist.
Deshalb waren die Lockerungen richtig, weil sich nur so herausfinden liess, wie viel Normalität in welchen Lebensbereichen möglich ist. Deshalb ist ein neuer Lockdown in der heutigen Situation keine Option, weil er eben gerade nicht hilft, solche Erkenntnisse zu gewinnen. Zu Recht versucht nun der Bundesrat, mit gezielten und differenzierten Einschränkungen und Vorgaben dort anzusetzen, wo nach aktuellem Wissensstand im Kampf gegen das Virus am meisten erreicht werden kann. Das ist besser, als Schulen, Restaurants und Konzertsäle mit funktionierenden Schutzkonzepten wieder zu schliessen.
Dass der Bundesrat im Sommer die Hauptverantwortung an die Kantone abgetreten hat, ist immer noch richtig – weil diese nahe am Alltag der Menschen sind. Der Fehler war, den Kantonen nicht rechtzeitig dabei zu helfen, ein koordiniertes Vorgehen für den Fall einer zweiten Welle aufzugleisen. Dieses Versagen hat Zeit gekostet.
Die Zahl der Patienten auf der Intensivstation und jene der Todesfälle ist trotz stark steigender Ansteckungsrate bisher tief geblieben. Die Schweiz mag für einmal nicht die Musterschülerin sein, die sie gern wäre. Aber sie hat aus der Notlage im Frühjahr gelernt und ist gut gerüstet für die nächsten Tage und Wochen. Mit dem Virus leben zu lernen – das heisst eben auch, nicht bei jedem Anstieg der Infektionskurve den Kopf zu verlieren.
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Kommentar zu den Corona-Entscheiden – Zweiter Lockdown ist keine Option
Der Kampf gegen das Virus bleibt mühsam. Doch es bringt nichts, bei jedem Anstieg der Infektionsrate den Kopf zu verlieren.