Öster-Raich und ein neues Schweizer Gesicht
Der Himmel ist wolkenlos, die Tribüne ausverkauft, die schwierigste aller Riesenslalomstrecken in makellosen Zustand. 25500 Personen sind nach Adelboden gekommen – die einen in der Hoffnung, neuerlich Zeuge eines aussergewöhnlichen Skifests zu werden, die andern mit der Absicht, jenseits der Nebeldecke etwas Distanz zum Alltag zu gewinnen. Benjamin Raich und Marc Berthod sind keineswegs bestrebt, ihren Chuenisbärgli-Alltag hinter sich zu lassen. Sie haben in Adelboden je zweimal triumphiert; sie mögen das coupierte Gelände, die anspruchsvollen Übergänge, den steilen Zielhang.Die Schweizer sind offensichtlich gewillt, den Funken zu zünden, die Bedürfnisse der Zuschauer zu befriedigen. Daniel Albrecht lässt seinen Skiern freien Lauf, begeht vor dem Flachstück jedoch einen Zeit raubenden Fehler. «Ich habe diese Welle bei der Besichtigung etwas unterschätzt», wird der Vorjahreszweite später gestehen. Derweil Didier Cuche ein ähnliches Missgeschick unterläuft, gelingt Berthod mit dosiertem Risiko eine ansprechende Fahrt, die ihm den neunten Zwischenrang einbringen sollte. Schweizerseits ist nur Carlo Janka schneller. Die Zeit Benjamin Raichs jedoch bleibt auch für den Aufsteiger aus Obersaxen unantastbar; dem 30-jährigen Tiroler vermag einzig Massimiliano Blardone Paroli zu bieten.Marco Büchel versucht dies gar nicht erst. «Ich will mich doch nicht blamieren», sagt der Spassvogel aus Liechtenstein, der viel zur hervorragenden Stimmung beiträgt und ergänzt, er wolle das Skifest einmal als Tourist geniessen. Ein paar Meter neben dem 37-jährigen Speedspezialisten haben sich Matthias Lanzinger – dem Österreicher musste nach dem fürchterlichen Sturz im norwegischen Kvitfjell ein Unterschenkel amputiert werden – und der querschnittgelähmte Silvano Beltrametti eingefunden. Wie Mahnmale erinnern die beiden daran, dass der Skisport auch Schattenseiten hat.Im Schatten der Haupttribüne vergnügen sich derweil die andern Weltcup-Gäste, vorab jüngere Semester. Das reichhaltige Angebot an alkoholischen Getränken führt einerseits zu langen Warteschlangen vor den offensichtlich nicht in ausreichender Anzahl vorhandenen Toiletten. Anderseits sind bereits am Mittag zahlreiche Teenager auszumachen, die sich nur noch bedingt unter Kontrolle haben. Und das in einem Dorf, in dem in jedem zweiten Hotelzimmer eine Bibel im Regal steht.Sandro Viletta, bei Halbzeit auf Platz 25 klassiert, überrascht im Finaldurchgang mit einer nahezu einwandfreien Vorstellung und übernimmt die Spitze; die Laufzeit des Bündners sollte nicht mehr unterboten werden. «Von oben bis unten Vollgas geben», sagt der 22-Jährige aus La Punt, als er von Zielrauminterviewer Bruno Kernen ermuntert wird, den am Start stehenden Kollegen einen Tipp zu geben. Der erste und einzige, der sich die Empfehlung nicht nur zu Herzen nimmt, sondern auch umsetzt, ist der Norweger Kjetil Jansrud. Albrechts Rodeoritt über den Zielhang endet auf Rang 26, Jankas Adelboden-Debüt auf Platz 22, Cuches Umwege reichen für Rang 11.Bleibt Berthod, der unter Druck steht, die letzte Chance hat, sich für den WM-Riesenslalom zu qualifizieren. Der Engadiner spielt seine Klasse aus, ohne ans Limit zu gehen, verpasst die Marken von Jansrud und Viletta, sichert sich jedoch auf souveräne Weise das Fahrticket nach Val d’Isère. «Ich mag diesen Berg, und er scheint auch mich zu mögen», hatte Bruno Kernen im Februar 2006 nach seinem Olympiamedaillengewinn in Sestriere in Anspielung auf den neun Jahre zuvor an gleicher Stätte errungenen WM-Titel gesagt. Marc Berthod und das Chuenisbärgli pflegen offenbar eine ähnlich innige Beziehung.Blardone und Raich bewältigen den Parcours ihrem Naturell entsprechend: der Italiener wild, der Österreicher abgeklärt. Raich gewinnt, lobt das «tolle und faire Schweizer Publikum». Blardone sieht sich ebenfalls als Sieger, nicht nur im Zielraum: Um Mitternacht feiert der einzig Riesenslaloms bestreitende 29-Jährige aus Domodossola ausgelassen seinen Podestplatz – für einmal kann sich ein Hauptdarsteller ohne Einschränkungen und schlechtes Gewissen an den Festivitäten beteiligen. Viletta wird Vierter, ist erstmals gefragtester Gesprächspartner der Schweizer Medienschaffenden, geniesst den lautstarken Beifall und kommt kaum mehr aus dem Strahlen heraus. «Unglaublich, einfach unglaublich», stammelt er im Zielraum.Cheftrainer Martin Rufener wirkt ebenfalls glücklich, obwohl der anvisierte Podestplatz verpasst worden ist. «Einer sticht immer, das ist die Stärke unseres Teams.» Viletta sei «e fräche Cheib», sagt der Berner Oberländer. Und: «Mit Viletta können wir schon wieder ein neues Gesicht präsentieren.» Im Hinblick auf den sonntäglichen Slalom überwiegt dennoch die Skepsis. «Die Probleme, die wir in Zagreb hatten, sind noch nicht gelöst», konstatiert der 49-Jährige aus Unterseen.Die düstere Prognose erhärtet sich, der zweite Slalomlauf findet wie jüngst in Kroatien ohne Swiss-Ski-Beteiligung statt. Österreich jubelt erneut, auch wenn «Big Ben», wie Raich im Wiener «Kurier» genannt wird, im Final von Platz 2 auf Rang 11 zurückfällt. Reinfried Herbst triumphiert vor Manfred Pranger – Balsam auf die Wunden von Alpin-Chef Hans Pum, dessen Equipe bezüglich der Popularität im eigenen Land von den Skispringern überflügelt worden ist. Den Schweizer Anhängern bleibt die Hoffnung auf Besserung in Wengen. Und die Aussicht auf den Januar 2010 und das nächste Skifest am Chuenisbärgli.Micha Jegge>
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