«Die Regierung konnte nicht anders»
Auf den lange erduldeten Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen habe Israel reagieren müssen, sagt Avi Primor, Politologe und ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland. Jetzt müsse der Krieg ein Ende finden, «bei dem beide Seiten ihr Gesicht wahren» könnten. Primor hofft auf den Einsatz einer internationalen Truppe.
«Bund»:Herr Primor, war es richtig, am 27. Dezember diesen Krieg zu beginnen?Avi Primor: Ich kenne keinen Krieg, der richtigerweise begonnen wurde. Die Frage ist: Hätte man diesen Krieg vermeiden können? Es war doch so: Die Hamas hat den Waffenstillstand einseitig eingestellt und hat mit der Beschiessung israelischer Dörfer und Städte entlang dem Gazastreifen begonnen. Manchmal sind 80 Raketen täglich auf Israel geschossen worden. Unsere Regierung hat sich über eine Woche lang zurückgehalten, bis der Druck aus der Bevölkerung so unerträglich wurde, dass sie reagieren musste. Ich glaube also, dass die Regierung keine Alternative hatte, sie konnte nicht anders.Weshalb hat die Hamas aus Ihrer Sicht den Waffenstillstand aufgekündigt?Ich glaube, dass die Hamas sehr stark von der Hisbollah beeinflusst war und ist. Die Hisbollah hat im Juli 2006 israelische Soldaten angegriffen, hat zwei Soldaten verschleppt und sechs getötet, danach haben wir erfahren, dass auch die zwei Verschleppten eigentlich tot waren. Damit begann der Libanon-Krieg, den die Hisbollah und die arabische Welt als Sieg betrachten. Daraus hat die Hamas die Lehre gezogen, dass man Israel in die Knie zwingen, es besiegen kann, wenn man bereit ist, zu leiden, die Zerstörungen zu erdulden.Ähnlich wie im Libanon-Krieg wird es auch jetzt sein: Die Hamas kann nicht besiegt werden, mindestens in der arabischen Welt wird sie als Sieger dastehen.Sehen Sie: Nüchtern betrachtet, hat Israel drei Möglichkeiten: Wir können den Gazastreifen total neu erobern. Das wollen weder Regierung noch Bevölkerung. Wir wissen, wie man in diesen Sumpf reinkommt, aber nicht, wie man rauskommt. Zweitens hat man in Betracht gezogen, das Hamas-Regime zu zerstören, die Spitze der Hamas zu beseitigen. Das ist das, was man jetzt versucht.Nein. Die Regierung hat beschlossen, das nicht zu tun. Ich kann Ihnen erklären, warum nicht: Unsere Armee könnte das zwar, aber die Frage wäre dann: Wer übernimmt die Verantwortung im Gazastreifen? Wir wollen diese Verantwortung nicht. Ägypten regierte dort von 1948 bis 1967, will aber diese Verantwortung ebenfalls nicht. Also bleibt die palästinensische Regierung des Präsidenten Mahmud Abbas. Sie will den Gazastreifen nicht mithilfe israelischer Bajonette zurückholen, was verständlich ist, das würde sie als Kollaborateure darstellen. Also: Unter diesen Umständen wollen wir die Hamas-Regierung nicht beseitigen.Was wollen Sie dann?Die dritte Möglichkeit ist, einen Waffenstillstand anzustreben, aber einen, der glaubwürdig und dauerhaft ist und die neuerliche Aufrüstung der Hamas vermeidet. Darum geht es jetzt. Auch die Hamas hat keine Alternative zu einem Waffenstillstand. Die Frage heisst also: Wie formuliert man einen Waffenstillstand, und wie können beide Seiten ihr Gesicht wahren? Brauchte es wirklich eine Invasion in den Gazastreifen, um dieses Ziel zu erreichen?Da gibt es Meinungsverschiedenheiten, und ich kann das auch nicht beantworten. Regierung und Streitkräfte behaupten, der Einsatz der Luftwaffe habe nicht ausgereicht, um die Hamas zu einem vernünftigen Waffenstillstand zu drängen. Ich sehe Nachteile der Invasion, kann aber die Überlegungen von Regierung und Armee nicht strikt ablehnen.Hätte es diesen Krieg nicht gegeben, wenn in Israel nicht Wahlen bevorstünden?Das glaube ich nicht. Die Wahlen haben dazu beigetragen. Die Regierung hat auf den Raketenbeschuss aus Gaza lange nicht reagiert, und die Opposition hat das natürlich im Wahlkampf benutzt und die Regierung zusätzlich in Bedrängnis gebracht. Aber es ist unmöglich für eine Regierung, den Druck der Bevölkerung zu überstehen, wenn die Bevölkerung sagt, wir werden beschossen, haben Angst, haben Verluste, und ihr tut nichts. Wenn wir angegriffen werden, brauchen wir eine Regierung, die uns verteidigen kann. Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb, Israel habe den Kommunikationskrieg schon verloren.Den verlieren wir immer. Wenn Bilder von toten Kindern gezeigt werden – dagegen kann man nichts machen. Wir zeigen keine solchen Bilder, wir zeigen unsere Verluste nicht, weil wir das als unwürdig erachten. Aber ich muss Ihnen sagen: Solche Kinderbilder sind fürchterlich. Wenn ich das sehe, werde ich auch wütend und bin erschüttert. Den Kommunikationskrieg können wir nicht gewinnen, aber dazu sagen die Israelis: Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht verteidigen sollen.Auf die Dauer kann doch Israel international nicht so isoliert bleiben, wie es heute ist.Ist Israel isoliert? Wäre es so, könnten wir den Krieg nicht führen. Die meisten Regierungen der Welt verstehen und unterstützen uns, auch wenn sie es nicht offen sagen. Es gibt wie immer zwei Sprachen: eine, die man in der Öffentlichkeit braucht, und eine für die Diplomatie. In diplomatischen Gesprächen werden wir selbst von der arabischen Welt unterstützt, weil sie die Hamas fürchtet. Unterstützt wird Israel vor allem von den USA, und es gibt den Verdacht, dass Israel diesen Krieg noch führen wollte, solange ein sehr Israel-freundlicher Präsident an der Spitze der USA steht.Die These, dass man nicht warten wollte, bis Barack Obama Präsident ist, ist fern der Realität. Wer hat den Krieg entfesselt? Wer hat Tag für Tag mit einer regelrechten Bombardierung begonnen? Die israelische Regierung hat sich lange zurückgehalten. Im Libanon-Krieg hat Israel damals sofort auf den Angriff auf israelische Soldaten reagiert. Diesmal nicht! 2006, nach ihrem Wahlsieg, hat die Hamas erklärt, sie wäre zu einem langfristigen Waffenstillstand bereit. Man wollte aber nicht mit ihr reden. War das ein Fehler?Es stimmt nicht, dass man mit der Hamas nicht redete. Das hat man immer behauptet, in Wirklichkeit haben wir mehrmals mit der Hamas gesprochen. Erstmals – natürlich im Geheimen, Anfang 2005, als die Hamas noch nicht an der Macht war – mithilfe von ägyptischen Vermittlern unter dem Hardliner Ariel Sharon. Damals stand unsere Regierung vor dem einseitigen Abzug aus dem Gazastreifen und wollte sicherstellen, dass die Armee dabei nicht angegriffen würde. Es war ein gemeinsames Interesse: Die Hamas wollte Israel aus dem Gazastreifen weghaben, wir wollten einen friedlichen Abzug. Es gab eine Vereinbarung, die respektiert wurde. Beim Abzug fiel kein einziger Schuss. Gab es auch später noch Gespräche?Anfang 2008 hat man mit der Hamas einen Waffenstillstand vereinbart, ebenfalls mit der Hilfe von Ägypten. Für die Propaganda sagt man, man spricht nicht miteinander, aber in der Politik diktieren Interessen. Wenn es gemeinsame Interessen gibt, spricht man miteinander. Wieso macht man diese Gespräche nicht öffentlich?Beide Seiten wollen das nicht. Die Hamas, weil sie offiziell einen Krieg gegen Israel führt. Da kann sie ihren Fanatikern und Fundamentalisten nicht erklären, wieso sie mit dem verhassten Feind spricht. Wir behaupten, die Hamas sei eine verbrecherische Bewegung, und wollen, dass die ganze Welt die Hamas boykottiert. Wie können wir erklären, dass wir mit der Hamas sprechen?Sie sagen: «Wir behaupten,die Hamas sei eine verbrecherische Bande.» Ist sie das?Natürlich. Eine Bewegung, die einen Nachbarstaat vernichten will, ist verbrecherisch, auch vom internationalen Recht her gesehen.Ein Teil der Hamas-Führung wird nach dem Krieg nicht mehr existieren, aber es werden neue Köpfe nachkommen. Vielleicht wird die Hamas sogar noch radikaler.Ich weiss nicht, wie man noch radikaler sein kann. Wichtig ist jetzt, dass der Waffenstillstand so gestaltet wird, wahrscheinlich mit der Hilfe der internationalen Gemeinschaft, vor allem Ägypten, dass sich die Hamas nicht wieder mit Raketen aus Iran, die sie durch die Tunnels erhält, aufrüsten kann. In Bezug auf «verbrecherische Bewegung» muss ich noch eines sagen: 2005 haben wir den Gazastreifen geräumt, im Januar 2006 hat die Hamas die Wahlen dort gewonnen. Warum hat die Hamas aus Gaza nicht den Kern eines unabhängigen Palästinenserstaates gemacht? Warum hat sie nicht alle Mittel in die Entwicklung der Wirtschaft und der Landwirtschaft gesteckt, sondern alles, alles in die Aufrüstung, in den Krieg?Man hat die Hamas gleich nach den Wahlen in die Isolation getrieben, man hat die Grenzen geschlossen, man hat Palästinenser nicht mehr in Israel arbeiten lassen.Die Abriegelung des Gazastreifens ist ein Fehler. Aber: Die Palästinenser dürfen nicht in Israel arbeiten, weil man Angst hat, dass sich unter den Arbeitern Selbstmordattentäter der Hamas verstecken könnten. Diese Angst bedeutet aber nicht, dass man den Gazastreifen ganz abriegeln muss, man kann ja die Grenzen zwischen Israel und dem Gazastreifen offen lassen und sicherstellen, dass keine Waffen durchkommen. Es gab Zeiten zwischen 2005 und 2008, wo die Grenzen offen waren.Wäre das Ihre Empfehlung an die israelische Regierung: Hört mit der Abriegelung des Gazastreifens auf?Vollkommen. Ich weiss nicht, ob ich das auch den Ägyptern empfehlen kann. Sie wollen keine Einwanderung aus Gaza, weil die Hamas mit den fundamentalistischen Muslimbrüdern in Ägypten verbunden ist. Ich weiss auch nicht, ob ich mich auf die Ägypter verlassen kann, dass sie keine Waffen durchlassen.Wie können Sie jetzt sicherstellen, dass keine Waffen mehr in den Gazastreifen kommen? Die zerstörten Tunnels können wieder gebaut werden.Nicht, wenn die Ägypter das nicht wollen. Wir sprechen von einer internationalen Truppe, die das überwachen soll.Wer soll die Friedenstruppe stellen – die Amerikaner werden es kaum sein können?Das ist mir egal. Türken, Indonesier, Marokkaner – die Frage ist: Wer ist die politische Macht, die die Mission definiert? Das müssen sowohl die Amerikaner als auch die Europäische Union sein. Warum die EU? Weil ich den Amerikanern nicht traue, dass sie genug Mut haben, sich einzumischen. Die EU könnte das machen, Nicolas Sarkozy wäre dazu bereit. Die Frage ist, was die Deutschen dazu sagen, die sich befangen fühlen, wenn es um Israel geht.Bundeskanzlerin Merkel hat am Donnerstag zugesagt.Es geht ja auch nicht um Bundeswehrsoldaten, sondern um die politische Unterstützung der Truppe.Sehen Sie in der Hamas den verlängerten Arm Irans?Nein, die Hamas ist keine schiitische Bewegung. Sie wird aber von Iran unterstützt, aufgehetzt und zum Teil geführt. Aber wenn wir mithilfe der Ägypter und der internationalen Gemeinschaft sicherstellen können, dass Iran keine Waffen mehr liefern kann, und wir der Hamas ermöglichen, die Wirtschaft zu entwickeln, wird die Hamas wieder sein, was sie immer war: nicht nur eine fundamentalistische fanatische Bewegung, sondern auch eine nationalistische palästinensische Bewegung. Dann sollte man die Regierung in Ramallah und die Hamas ermutigen, eine Art Föderation zu bilden, damit die Regierung in Ramallah auch im Namen der Hamas mit uns verhandeln kann. Das ist durchaus möglich, obwohl man es heute nicht glaubt. Gibt es denn in Israel überhaupt Vorstellungen, wie ein Friede aussehen könnte?Wir sind mit der Abbas-Regierung sehr weit gekommen und haben eigentlich einen beidseitig akzeptablen Friedensentwurf für das Westjordanland. Warum können wir ihn nicht in die Tat umsetzen? Weil das Element Sicherheit fehlt, das für die Israelis die Hauptsache ist. Als wir mit Ägypten Frieden geschlossen haben, hat uns der ägyptische Präsident Sicherheit entlang der ägyptischen Grenze versprochen. Wir vertrauten ihm, weil wir wussten, dass er über die Mittel verfügte, Sicherheit zu gewährleisten. Das Gleiche war später mit König Hussein von Jordanien der Fall. Dem Palästinenserpräsidenten trauen Sie nicht.Doch, wir halten ihn für einen anständigen, vernünftigen und ehrlichen Mann. Aber er hat keine Mittel zur Verfügung, um Sicherheit zu gewährleisten, nicht einmal seine eigene, er lebt wie in einem Bürgerkrieg. Die Leute bei uns fragen sich: Was geschieht, wenn wir das Westjordanland räumen und wir dann beschossen werden wie aus dem Gazastreifen? Und das, nicht weil es der Palästinenserpräsident will, sondern weil er es nicht verhindern kann? Das heisst, es braucht eine internationale Truppe, die die israelische Armee ablöst und Frieden erzwingt, im vollen Einklang mit der palästinensischen Regierung und der Bevölkerung, die doch eigentlich Frieden haben will. Wäre Israel denn auch bereit, Siedlungen zu räumen?Ja natürlich. Allerdings nicht unbedingt alle, man kann ja Landabtausch betreiben. Das haben wir mit den Palästinensern schon mehrfach erörtert, und dazu gibt es Zustimmung. Sie müssen nicht genau zurückbekommen, was sie 1967 verloren haben, aber genauso viele Quadratkilometer. So können wir die drei grossen Siedlungsblöcke, die sich entlang der Grenze befinden, annektieren. Die Palästinenser erhalten dafür ein anderes Territorium.Was Israel in den letzten Jahren getan hat, widerspricht dem diametral. Es werden ständig neue Siedlungen gebaut.Ich glaube nicht, dass seit Olmert an die Macht gekommen ist, neue Siedlungen gebaut wurden. Es sind Siedlungen in den drei Blöcken erweitert worden – gegen den Willen der Palästinenser und auch der Amerikaner. Neue Siedlungen ausserhalb des Territoriums, das wir annektieren wollen, sind nicht mehr gebaut worden.Was soll mit Ostjerusalem geschehen?Sehen Sie: Die Teilung zwischen Israelis und Palästinensern muss eine demografische Teilung sein. Das heisst: Dort, wo Palästinenser wohnen, soll ein Palästinenserstaat entstehen, wo Israelis leben, soll der israelische Staat bleiben. Palästinenser und Israelis leben in anderen Teilen Jerusalems. Der Osten, wo die Palästinenser sind, soll Teil des palästinensischen Staates werden. Nur: Dort dürfen keine Schranken errichtet werden, Jerusalem muss eine offene Stadt bleiben. Sie stehen in Kontakt mit der israelischen Regierung – ist Ihre Position mehrheitsfähig?Erstaunlich ist, wie die Politiker in der Öffentlichkeit reden und wie im Privaten. Abgesehen vom extremen Rechtslager äussern sich die meisten meiner Kollegen in der Regierung genau wie ich.Weshalb fehlt der Regierung der Mut, das auch in der Öffentlichkeit zu vertreten?Weil die Bevölkerung nur eine Sorge hat, die Sicherheit. Der durchschnittliche Israeli sagt: Was wollen die Palästinenser von uns? Wir haben Gaza geräumt. Wieso beschiessen sie uns? Der durchschnittliche Israeli weiss nicht, dass die Menschen im Gazastreifen nicht normal leben können, das interessiert ihn auch nicht. Er findet nur, sie sollen uns ihn Ruhe lassen. Wird dieser Krieg bei den Wahlen die Rechte in Israel stärken, wie es üblich ist?Am Anfang haben alle Kommentatoren den Krieg als Segen für den Likud und die extreme Rechte gesehen. Meinungsumfragen zeigen jetzt aber ein anderes Bild, weil die Regierung wie eine rechte Regierung reagiert hat. Die entscheidende Frage ist aber: Wie kommt der Krieg zu Ende? Man muss jetzt eine Formel finden, bei der beide Seiten ihr Gesicht wahren können. Jeder muss sagen können, dass er aus diesem Krieg gut rausgekommen ist. Wenn das glaubwürdig ist, wird das der Regierung in den Wahlen helfen. Was ist das Schlimmste, was dieser Krieg bewirken kann?Wenn die israelische Bevölkerung glaubt, dass der Waffenstillstand nur vorübergehend sein wird und Israel in kurzer Zeit wieder beschossen wird, vielleicht sogar mit grösseren und stärkeren Raketen.
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