Unglück, so zufällig wie Glück
Verblüffend leicht und nüchtern inszeniert der deutsche Regisseur Ingo Kerkhof den Klassiker «Endstation Sehnsucht» von Tennessee Williams. Eine Verlegung des hochexplosiven Stoffs in eine heutige Problemzone hätte die nonchalante Inszenierung aber noch überzeugender gemacht.

Er trägt zwar ein weisses Rippenshirt, ein Modell ohne Ärmel allerdings, das seine ein wenig schlaffen Oberarme nicht verbirgt. Bereits bei seinem ersten Erscheinen, als er zusammen mit den andern Schauspielern und Schauspielerinnen im Halbdunkel neben der Bühne wartet und Kaugummi kaut, macht Jürgen Hartmann klar, dass er nicht hinter Marlon Brandos legendärer Performance herhechelt. Hartmann ist keine Sekunde lang der Stanley Kowalski, den Brando in Elia Kazans Verfilmung (1951) von Tennessee Williams’ Theaterstück «Endstation Sehnsucht» (1947) mit so viel unparfümiertem Sex aufgeladen hat, dass er bereits als 27-Jähriger zur Ikone geworden ist. Hinterhältig und nachtragend ist Hartmanns Stan, der mit handfester Gewalt sein kleines erbärmliches Reich beherrscht. Das Magisch-Abgründige hat der deutsche Regisseur Ingo Kerkhof Williams’ Klassiker kurzerhand abgeschminkt: Nur noch trostlos ist die Welt, in der die Südstaatenschönheit Blanche landet, als sie sich nach dem Verlust ihres vornehmen Elternhauses «Belle rêve» langsam abhanden kommt und bei ihrer Schwester Stella und deren Ehemann Stan Unterschlupf sucht. Hier sorgt nur noch der Streit nach den Pokerrunden für ein bisschen Abwechslung. Die Wonnen der HörigkeitDie Gewöhnlichkeit, mit der Kerkhof Williams’ feschen Stan ausstattet, entwickelt im Lauf der zweieinhalbstündigen Aufführung eine eigentümliche Faszination. Ziemlich blass und unscheinbar wirkt auch Stella, die sich mit den Wonnen der Hörigkeit über ihren sozialen Abstieg hinwegtröstet. Zwar glühen die Backen von Lucy Wirth, wenn sie als Stella von ihren Entzugserscheinungen erzählt, die sie plagen, wenn Stan eine Nacht weg ist. Doch weit stärker als die körperliche Anziehung zwischen den beiden wirkt auf der Bühne die physische Bedrohung durch eine von keinerlei Erotik aufgeladene Gewalt, mit der Stan seine junge Frau in Schach hält. Marianne Hamre umstöckelt derweil als Blanche geschickt die Fallgruben des Wahnsinns, mit denen Williams den Weg der eigentlichen Hauptfigur in den Abgrund säumt. Denn diese Blanche quasselt, was das Zeug hält. Unterbrechen lässt sie sich kaum, denn die Überlegungen der anderen könnten sich wie Rost in die brüchige Fassade fressen, die sie mit ihrem Geschwätz zu polieren versucht. Ohne diesen ziemlich ramponierten Schutzschild bleibt von der aufblondierten Schönheit nicht viel übrig. Den Job als Englischlehrerin ist sie los, weil sie die Finger nicht von einem 17-jährigen Schüler lassen konnte, und so bleibt ihr nur noch ihr anderes Talent, ein reflexartig gewordenes Flirten, dessen Mechanismus auch der Anblick des in ihren Augen so primitiven Schwagers auslöst. Viel Schrulligkeit kaschiert zudem den Irrsinn, dem Blanche wie einem letzten gütigen Verehrer langsam verfällt. Die Komik, mit der Marianne Hamre teilweise Blanches Wunderlichkeit ausstattet, wird perfekt ergänzt durch die slapstickhafte Naivität von Blanches Verehrer Mitch. Ganz schön blauäugig gibt Heiner Take diesen Mitch, der sich zwar in ein Trugbild verliebt hat, aber auch von der realen Blanche nicht loskommt. In einer der Schlüsselszenen, als Blanche beiläufig ihre Affektiertheit ablegt, das Trauma ihrer frühen Ehe preisgibt und Mitch ebenso unprätentiös ihr seine grosse Einsamkeit verrät, wirken die beiden wie ein Paar aus den «Liebe ist . . .»-Cartoons. «Manchmal – ist Gott da – ganz schnell», sagt Blanche in diesem Moment unspektakulärer Wahrhaftigkeit. Abblättern der DramatikWo das Glück so zufällig ist wie das Unglück, da verschiebt sich die ganze Wahrnehmung: Abgesehen von den heftigen, aber wenig überzeugend wirkenden Kopulationsanfällen zwischen Stan und Stella sowie Stan und Blanche kommt Williams’ Tragödie plötzlich verblüffend leicht daher. Für diese ungewohnte Stimmung hat Philipp Ludwig Stangl mit einer Musikinstallation, zu der auch ein hübsches Radio (Andri Schenardi) aus Fleisch und Blut gehört, eine raffinierte Geräuschkulisse geschaffen: Die flüchtig-schöne Toncollage aus leisem Zuggrollen, Blechdosengeraune, einem schwülen Regentropfen-Prélude und den Zuversicht verströmenden Takten eines New Orleaner Begräbnisses bewirkt, dass die Dramatik von Williams’ hochexplosivem Stoff unaufhaltsam abblättert. Diese neue Nüchternheit und Leichtigkeit bekommt dem gut sechzigjährigen Stoff. Nur will einem nicht so ganz einleuchten, warum Kerkhof so stark an Williams’ Vorlage kleben geblieben ist und nicht den Mut aufgebracht hat, sie zu aktualisieren. Zwar ist der Text klug gestrafft worden, und zeitlos modern wirkt Anne Neusers karge Ausstattung. Doch noch immer ist das verlorene Paradies von Blanche und Stella eine Südstaatenvilla mit imposanten Säulen und Stanley noch immer der Polacke, der sich als Vertreter nach oben schaffen will. Die «Endstation Sehnsucht» muss nicht zwingend vor der Bank der Lehman Brothers liegen – aber eine Verlegung in eine heutige Problemzone hätte die über weite Strecken gelungen nonchalante Inszenierung noch überzeugender gemacht.
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