Glückseliges elektronisches Flirren
Die erste Platte des Jahres: Das amerikanische Animal Collective sprengt auf «Merriweather Post Pavilion» das musikalische Koordinatensystem auf unerhört eingängige Weise
«If I could just leave my body for the night», singt eine echounterlegte Stimme nach knapp zweieinhalb Minuten Album-Spielzeit über einen minimalen, aus verfremdeter Gitarre und Keyboard zusammengesetzten Klangteppich. Die Töne brechen in der Folge in wildes Flimmern aus, der technoid-tribalistische Beat pumpt, die Melodie triumphiert, und der Tanz durch die Nacht beginnt – bis die Rave-Ekstase vorbei ist und der menschliche Körper wieder zusammengesetzt ist. «In the Flowers» – dieses zweipolige und doch geschlossene Lied –eröffnet «Merriweather Post Pavilion» (Domino/MV) des Animal Collective. Das bereits neunte Album, benannt nach einer von Frank Gehry entworfenen Freilichtbühne im US-Staat Maryland, sei ihre Easy-Listening-Platte geworden, schreibt das Kollektiv-Mitglied Noah Lennox auf der Website des deutschsprachigen Popkulturmagazins «Spex». Easy Listening, weil die ohne Hierarchie organisierte Band aus Baltimore Songs schreiben wollte, «die einfach so ins Ohr tröpfeln». Und Lieder sind es in der Tat geworden, elf beglückende, neugierige Lieder, die voller sinnesverwirrender Klangdetails stecken, für staunende, weit offene Ohren sorgen und dennoch eingängig, hymnisch, geradezu tanzbar sind. Prozesshafte Annäherung ans Lied Die mittlerweile über die Kontinente verstreut lebenden Schulfreunde Noah Lennox, David Portner, Brian Weitz und der Gitarrist Josh Dibb – der auf «Merriweather Post Pavilion» nicht vertreten ist – näherten sich während ihrer zehnjährigen Karriere der Liedform von Album zu Album und auf kontinuierlichen Konzertfahrten prozesshaft an. Hinter Pseudonymen und Tiermasken versteckt, stürzte sich das selten komplette Kollektiv in freie Lärm-Hippie-Freakouts mit primitiv und archaisch anmutenden Trommeln, schamanistischen Gesängen, Schreien und ätzenden, mystischen Elektronikeinsprengseln. Das Animal Collective zelebrierte das nur scheinbar dilettantische Wilde mit dem Gestus des Unbekümmerten, des Lustvollen und erschuf formbefreite, stets selbstreflektierte Musik ohne verkopftes Akademikertum. Das erste weitum beachtete Album war «Sung Tongs» (2004), das im Duo zwischen Portner und Lennox entstand. Die beiden Fixpunkte der Band, besser bekannt unter den Pseudonymen Avey Tare und Panda Bear, frönten den süssen Harmoniegesängen der Beach Boys und verschrobener Folkbands aus den Sechzigern wie der britischen Incredible String Band, die sie über ihre schrummenden Akustikklampfen legten. Die Gruppe landete in der Folge in den florierenden Waldschraten-Schubladen «Freak Folk» und «Free Folk», die sie spätestens mit der letzten, bereits stark elektrifizierten Rock-Platte «Strawberry Jam» (2007) sprengten. Ohne Rockinstrumentarium Vor einem Jahr bannten die drei musikhistorisch beflissenen, knapp 30-jährigen Abenteurer ihre neuen, bereits konzerterprobten Lieder beinahe ohne herkömmliches Rockinstrumentarium auf Band: Die sorgsam arrangierten Sampler- und Synthesizer-Fragmente zirpen und flirren in den verschiedensten Frequenzen nur scheinbar anarchisch durch den weiten Klangraum, die vom Chefelektroniker Brian «Geologist» Weitz generierten Bässe sind stellenweise so tief, wie man sie nur in den Techno-Clubs zu hören bekommt, während sich die jubilierenden, ständig in Bewegung begriffenen Gesänge der Liedschreiber Avey Tare und Panda Bear verschränken und umgarnen. Naiv und aufrichtig besingen diese das einfache Familienleben, die Freuden eines Sommers und sprechen im furiosen, karnevalistischen Schlusspunkt «Brothersport» dem Bruder des Panda Bear auf herzzerreissende Art Mut zu. Ein Prachtstück wie «My Girls» knüpft mit seiner euphorisierenden Repetition an das Loop-basierte Panda-Bear-Solowerk «Person Pitch» an, der schwebende, lupenreine Popsong «Bluish» wartet mit einer zauberhaften Harmonieabfolge, und der drängende, ausgelassene Schwerenöter «Summertime Clothes» beglückt, als stünde dem Jahr 2009 eine Neuauflage des Liebessommers bevor. Die harmonische Glückseligkeit ist denn auch die letzte Referenz auf eine Zeit, als das Kollektiv noch knisternde, naturbelassene Lagerfeuer-Lieder veröffentlichte. Die Beach Boys im Club «Merriweather Post Pavilion» funktioniert gleichermassen als geschickt aufgebautes Set eines imaginären DJs wie als berückend schöne, zeitlose Liedersammlung: Die zuckende Ekstase des Tanzes vermischt sich mit Tränen des Glücks und der Ergriffenheit auf einem Werk, das die Geschichte der elektronischen Musik – von der Minimalmusic eines Terry Riley bis House – gleichermassen zitiert und spiegelt wie die LSD-Harmoniewelten der Beatles und der Beach Boys. «Merriweather Post Pavilion» ist so nicht weniger als eine wunderbar herzliche, trotz der Fülle an Ideen und Verweisen nie beliebige Ode an die Popmusik, das Leben, das Universum und den ganzen Rest. [i] Konzerte 10. März Fri-Son, Freiburg, 11. März Schüür, Luzern
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