«Ein Nichts, das alles sein muss»
«Begehen wir Tag für Tag millionenfach Verbrechen an den Tieren? Wie könnte ein von Respekt geprägtes Verhältnis zum Tier aussehen?» So fragte der «Kleine Bund» im vergangenen Sommer in der Ausschreibung zur dritten Ausgabe des Essay-Preises. In den fast 100 Wettbewerbsbeiträgen fanden sich radikale, resignative und romantisierende Antworten.
Am 1. September 2008 trat die revidierte Tierschutzgesetzgebung in der Schweiz in Kraft. Meerschweinchen müssen ab sofort in Gruppen von mindestens zwei Tieren gehalten werden. Neu gilt auch eine Ausbildungspflicht für Hunde und ein Verbot des betäubungslosen Kastrierens von Ferkeln.
Auch das überarbeitete Tierschutzgesetz hätte Stanislaus nicht retten können. Stanislaus war ein glückliches Schwein, das seine Tage auf einer Wiese mit viel Auslauf verbringen konnte. Und Stanislaus war «mein Schweinefreund», schreibt die Ich-Erzählerin. Zusammen verdösten sie ganze Nachmittage «im Halbschatten einer Eiche». Doch dann kam der Tag, an dem Stanislaus in einen Raum getrieben und das Kind von den Erwachsenen weggewiesen wurde. Ein letztes Mal begegneten sich die Blicke des Mädchens und des Schweins. Stanislaus schien zu spüren, was ihn erwartete: «Bei 97 Prozent weiss man, wenn es auf die Hinrichtung zugeht.»
97 Prozent: So gross ist die Übereinstimmung des Erbguts von Menschen und Schweinen. «Auch auf seinem letzten Gang», erinnert sich die Autorin, «strahlte Stanislaus eine unendliche Würde aus. Sie hatte nichts Schweinisches an sich, sondern bestand nur aus universell Kreatürlichem in seiner ganzen Reinheit.» Die anderen Schweine hörten die Schreie und das Röcheln von Stanislaus und wurden ganz still. «Rechtfertigt ein glückliches Leben einen grausamen Tod?» Kein Mensch möchte mit diesem «armen Schwein» tauschen, merkt die Erzählerin bitter an, ausser vielleicht bei einer Xenotransplantation einer schweinischen Herzklappe. Später bei einem Fest wird ein Schwein gegrillt, «Schwinigs» wird ihr angeboten. «Die Welt ist eine Sau, meine Welt ist eine Sau», denkt das Mädchen. Sie mag «kein Schwein» und schiebt den Teller weg.
Die emphatische Beschwörung einer innigen Verbundenheit zwischen Mensch und Schwein in diesem Wettbewerbsbeitrag war kein Einzelfall; der Jury lag eine ganze Reihe von Texten vor, deren Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Tier konkret an eigenes Erleben anknüpften – auch wenn dabei die Klippen des Kitsches und der «Vermenschlichung» nicht immer überzeugend umschifft wurden. Diese Beiträge spiegeln nicht zuletzt auch den weiten Weg vom Aufklärer Kant, der Tiere als «vernunftlose Wesen» bezeichnete, bis zum australischen Tierethiker Peter Singer, der höher entwickelten Säugetieren den Status von Personen zubilligt.
Die besseren Menschen?
Eine Autorin rettet ein Pferd vor dem Gang zum Schlachthof und erlebt später die gemeinsamen Jahre als Reiterin mit «Sinfonie» als beglückende «Charakterschule». Die endgültige Trennung von der alt gewordenen Stute, die ihre letzten Tage auf einer Jura-Weide verbringt, kommt ihr vor wie das Loslassen der «letzten Tochter». Und sie fragt: «Warum bleibt die Beziehung zu einem Tier so stabil, wenn einmal das gegenseitige Vertrauen erworben ist? Und warum ist das mit Menschen nicht so?»
Eine solche Haltung, die bei aller Empfindsamkeit stets Gefahr läuft, das Tier in einem Akt sentimentaler Verklärung zum besseren Menschen zu stilisieren, kontrastiert mit dem wütenden Befund einer Essayistin, für die unser Verhältnis zum Tier schlicht faschistische Züge aufweist.
Zustimmend wird Theodor W. Adornos Diktum zitiert, wonach Auschwitz da beginne, wo jemand im Schlachthaus stehe und denke, es seien ja nur Tiere: «In der modernen Gesellschaft ist das Tier ein Nichts, das alles sein muss. Menschenspielzeug etwa. Aus Lust an der Qual vom Zweibeiner gedemütigt, in der Stierkampfarena, im Zirkus, als lächerliche Kreatur, jeglicher Würde und Freiheit beraubt, Tanzbär, Kampfhahn oder -hund, (...) nicht zuletzt dämonisierter Gänsehautgarant in Überlebensgrösse auf Zelluloid.» Was also soll das Tier für einen Stellenwert haben in einer Gesellschaft, wo die Grenzen zwischen Nutz- und Haustier, zwischen Spielkamerad und Liebesersatz längst fliessend geworden sind?
«Je höher entwickelt die Kultur, desto mehr menschliche Eigenschaften werden in die Tiere projiziert», konstatiert ein Autor. Diese Vermenschlichung habe dazu geführt, dass eine auch medial gesteuerte Aufmerksamkeit wenigen Tierarten zugutekomme und andere, etwa Wildtiere, im Vergleich vernachlässigt würden.
Die Vermenschlichung von Tieren steht möglicherweise in einem Austauschverhältnis zu einem Phänomen, das ein Essayist als «Animalifizierung der Gestaltung unserer Lebenswelt» bezeichnet: «Nebst den meist tierischen Stoffwesen als Spielzeuge für Kinder», so die Beobachtung, «orientiert sich das Design von technischen Geräten zum Teil bewusst an tierischen Formen.» Als Kompensation zum Verschwinden der Natur aus dem urbanen Raum schaffe der Mensch «künstliche Dinge und Maschinen, in denen das Animalisch-Dynamische nachhallt».
«Kontakt zur animalischen Natur»
Die Unterscheidung zwischen Tier und Mensch, gibt der Autor weiter zu bedenken, sei eine «gesellschaftliche oder kulturelle Konstruktion». Als Gefangene eines «binären Systems» müssten wir Lebewesen zwanghaft entweder dem Menschen oder den Tieren zuordnen. Für ihn ist gesetzlich verankerter Tierschutz bei aller Notwendigkeit letztlich ein Beleg dafür, dass es den Menschen an Einsicht in die Richtigkeit ihrer Handlungen mangele. Der Ausweg wird betont lapidar formuliert: «Schweigen» und den «Kontakt zur animalischen Natur» pflegen: «Wer in die Natur geht, das Tierische erlebt, etwa grasende Kühe mit einem Muh begrüsst, ihnen das Fell hinter den Hörnern streichelt,(...) steht im Leben.»
Ein anderer Autor wiederum setzt seine Hoffnungen in die Evolution und sieht das menschliche Grosshirn mit seinen «kulturell entwickelten und erlernten Weltbildern» im ständigen Konflikt mit «hineingeborenen» tierischen Instinkten: «Im Moment schwanken wir zwischen Entrüstung über Pelztierzucht und Robbenjagd, während gleichzeitig saftiger Schinken oder ein frisches Brathuhn das Kätzchen in uns schnurren lässt.» Vielleicht entwickle sich ja eines Tages eine Lebensform, die es nicht nötig habe, «sich selbst vor lauter Abgrenzung gegen das in ihr wohnende Tier die Krone der Schöpfung aufzusetzen».
Der scheinbar überlegene Mensch, gibt ein weiterer Beitrag zu bedenken, stehe eigentlich «unter dem Tier»: Dieses sei nämlich in sich vollkommen und erfülle die ihm von der Evolution zugewiesene Rolle. Der Mensch hingegen sei permanent überfordert und verfüge über ein «Mehr» gegenüber dem Tier, das gleichzeitig ein «Weniger» sei. So erkenne der Mensch im Tier zweierlei: einen Bruder und das Abbild dessen, was er niemals sein werde: «ein versöhntes Wesen». Die ethische Notration des Essayisten lautet: «Wir brauchen nicht auf tierische Ernährung zu verzichten, weil dies gegen das Tierische in uns verstösst; aber wir schulden dem Tier Respekt, weil das Allermenschlichste in uns es verlangt.»
Mit religiösen Kategorien wird in auffallend vielen Beiträgen operiert. Da das Tier kein Sünder sein könne, so der Tenor, wecke es im Menschen immer wieder Paradiessehnsüchte. «Man nehme ein Tier», postuliert ein Beitrag, «man fresse es, aber eines ist ihm zu lassen: seine Unbescholtenheit.» Eine pragmatische Haltung im Umgang mit Tieren vertritt ein Essayist, der sich auch als engagierter Jäger vorstellt: Er plädiert für eine «Portion Gesellschaftsoptimismus» bei dieser Thematik: «etwa bei Freunden sich umhören und einen Mittelwert bilden. Und der sähe dann wohl etwa so aus: eine Fliege klatschen, weil sie einem auf den Wecker geht: kein Problem. Das Auto bremsen, wenn ein Igel über die Strasse huscht: sicher. Fleisch verzehren: durchaus, aber es muss ja nicht täglich sein, schon wegen der Gesundheit.» Die gesellschaftspessimistische Variante liefert der Autor umgehend nach: «Könnte man viel mehr tun? Ja. Nützte es etwas? Nein.»
Im «Bund»-Lokalteil wird am kommenden Montag ausführlich über die Preisverleihung am 9. Januar in der Dampfzentrale Bern berichtet.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch