Zeit der Zwietracht
Die Zeit vor dem Eurovision Song Contest ist in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion eine Zeit der Zwietracht. Als Erstes schlugen die Georgier los. Sie kürten Mitte Februar das Schlagerquartett Stefane and 3G zu ihren Kandidaten für den diesjährigen Gesangswettbewerb, der im Mai in Moskau stattfinden wird. Der Titel des Lieds: «We Don't Wanna Put in».Weil das «Put in» arg wie «Putin» klingt, fühlte sich Russland umgehend beleidigt: «Georgien tritt bei der Eurovision mit einem antirussischen Lied auf», schimpfte die «Komsomolskaja Prawda». «Der Text ist ein spezielles Abrakadabra, um der ganzen Welt mitzuteilen, dass Georgien Putin nicht will», erklärte die Philologin Sofia Dawydowa gegenüber einer Wirtschaftszeitung.Auch die Union Europäischer Sendeanstalten hatte kein gutes Gefühl. Sie erklärte, die Verse von Stefane and 3G besässen politischen Charakter, die Georgier mögen sie doch umschreiben oder ein anderes Lied wählen. Schlager-Georgien verkündete darauf unter Protest, es werde dem Sängerfest in Moskau fernbleiben. Unter Ausnutzung seiner Finanzreserven habe Russland die Europäer unter Druck gesetzt, mutmasste Kulturminister Nikolos Ruruja. Tiflis schmollt.Und jetzt geht es auch zwischen Russen und Ukrainern heftig zur Sache: Zunächst scheiterte Nastja Prichodko, 21, im Halbfinale der ukrainischen Eurovisionsausscheidung. Das Sternchen fühlte sich betrogen, schrieb einen offenen Brief an Präsident Wiktor Juschtschenko: «Als geborene Kiewerin, als Patriotin meines Landes haben mich die unethischen Kommentare der Jury zutiefst erschüttert.» Die Prichodko, die zur selben Klicke wie Juschtschenkos Sohn gehören soll, erwirkte tatsächlich eine einstweilige Verfügung, das Finale aufzuschieben.Parallel aber gab die Patriotin eine Kandidatur für Russland ein, Brudervolk und Gaskriegsfeind der Ukrainer. Und Russlands Popszene wählte die Überläuferin prompt zur russischen Eurovisionskandidatin. Dort war die Konkurrenz dieses Jahr schwach, und zudem kennt jeder russische Fan Nastja Prichodko, die vergangenes Jahr den TV-Wettbewerb «Starfabrik» gewann, die russische Variante von «Music-Star». Moskau fühlt sich – auch was Musik angeht – noch immer als Hauptstadt der nicht mehr vorhandenen Sowjetunion. Also trällern bei «Starfabrik» auch Ukrainerinnen, Weissrussen oder Kasachen mit.«Russlands Ehre wird von einem ukrainischen Mädchen verteidigt», staunt das Massenblatt «Komsomolskaja Prawda». «Die Musik für ihr Lied hat ein georgischer Komponist geschrieben, den Text eine Estin, und das Lied wird sie zum Teil auf Ukrainisch singen.»Jossif Prigoschin, Produzent der unterlegenen Diva Valeria, forderte eine Neuwahl: «Wir müssen jemand anders schicken. Ein Lied, das auf Ukrainisch gesungen wird, hat nichts mit Russland zu tun.» Seine Valeria war mit einem englischen Song angetreten.Die Boulevardzeitung «Moskowskij Komsomolez» kramte eine «Starfabrik»-Aufzeichnung hervor, auf der Nastja ausdrücklich verkündet, sie möge weder «Neger noch Chinesen». Laut «Moskowskij Komsomolez» soll sie ihre farbige Konkurrentin Mango als «Schwarzarsch» verunglimpft und «Heil Hitler» durchs Studio gerufen haben. Nastja Prichodko hat sich inzwischen entschuldigt. Mango konkret habe sie total genervt. «Und wie kann man mich eine Faschistin nennen? Mein Grossopa war doch Japaner!»Am Ende jedenfalls, beim Eurovisionsfinale am 15. Mai, wird wieder Eintracht herrschen: Russen, Georgier, Ukrainer und alle möglichen anderen Völker des längst begrabenen Warschauer Paktes werden alle Fehden vergessen. In postsowjetischer Harmonie werden sie sich gegenseitig Höchstpunktzahlen zuschaufeln. Und Nastja Prichodko geht als Mitfavoritin an den Start.Stefan Scholl, Moskau>
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