Zärtlich erzählen
In ihrer Nobel-Vorlesung umreisst Olga Tokarczuk ihre Vorstellung einer neuen Erzählweise, setzt Erfahrung über Information und warnt vor Fake News.

Eine neue Dimension des Weltwissens bedarf einer anderen Dimension des Erzählens, sagte Olga Tokarczuk in ihrer Nobel-Vorlesung in Stockholm. Sie sprach Polnisch, die Zuhörer im Saal lasen englische und schwedische Übersetzungen mit: «Ich träume von einer neuen Erzählweise - einer in der ‹vierten Person›, die es schafft, die Perspektiven jedes ihrer Charaktere zu umfassen, aber auch über ihrer aller Horizont hinaus zu treten, eine, die mehr sieht und eine weitere Sicht hat, und die durch die Zeit gehen kann.»
Diese Perspektive nannte Tokarczuk auch eine «Zärtliche Erzählerin», so der Titel ihres Vortrags. Sie sei das Ergebnis einer Suche nach einer Literatur, die die Schäden des Informationszeitalters überdauern kann. Dessen wirre Lage beschrieb sie genau: Wie die von Johann Comenius im 17. Jahrhundert formulierte Vorstellung vom «Pansophismus», dem allen zugänglichen Wissen, das jeden Einzelnen zum reflektierten Menschen machen würde, vom Internet eben nicht erfüllt wurde.
Die Masse der Informationen habe «schwache Erzählweisen» hervorgebracht: Anachronistische Narrative, zu denen die identitären und nationalistischen gehören, mit denen auch ihr Land Polen zu tun hat, erwähnte sie nur kurz. Die marktgängige Aufteilung der Literatur in Genres lehnte sie ab. Und sie erzählte, welch grundsätzliches Misstrauen gegen die Fiktion durch Fake News entsteht: «Ich werde oft skeptisch gefragt: ‹Ist das wirklich wahr, was Sie geschrieben haben?› Und jedes Mal habe ich das Gefühl, diese Frage sagt das Ende der Literatur voraus.»
Die Dramaturgie der Fernsehserie
Mit der Dramaturgie der Fernsehserie beschäftigte sich Tokarczuk, ihren Charakterensembles und offenen Enden, «die dauernde Verschiebung der Belohnung, die eine Katharsis darstellt». Der Konjunktur der Ich-Erzählungen gestand sie zu, dass sie für eine Demokratisierung des literarischen Feldes stehe. Aber wenn das Lesen von Ich-Erzählungen auch bedeute, sich an die Stelle eines Anderen zu versetzen, fehle dabei, was Tokarczuk die Dimension der Parabel nannte: Diese mache den Helden zu einer Art Jedermann von überall.
Gegen den Begriff der Information stellte Tokarczuk «Erfahrung» und «Bedeutung» als Erkenntnisweisen der Literatur, die sich allerdings einen der heutigen Gestalt des Weltwissens entsprechenden Rahmen geben müssten. Eben den einer «vierten» Perspektive, die auch wahrnimmt, wie Figuren, Ichs und Wesenheiten über verschiedene Räume und Zeiten miteinander verbunden sind: «Alles zu sehen, bedeutet eine ganz andere Verantwortung für die Welt, weil es offensichtlich wird, dass die Geste ,hier' mit der Geste ,dort' verbunden ist, dass eine Entscheidung, die in einem Teil der Welt getroffen wird, Auswirkungen in einem anderen ihrer Teile haben wird, und dass die Unterscheidung zwischen ,mein' und ,dein' fragwürdig wird.»
Zum leitenden Prinzip ihrer Poetologie machte Tokarczuk mit dieser Nobelpreisrede einen Affekt: «Zärtlichkeit ist die tief gefühlte Sorge um ein anderes Wesen und seinen Mangel an Immunität gegen Leid und die Auswirkungen der Zeit. Zärtlichkeit nimmt die Bindungen war, die uns verknüpfen, die Ähnlichkeiten und Gleichheit zwischen uns. Es ist eine Art zu sehen, die die Welt als lebendige zeigt, lebend, vernetzt, kooperierend und abhängig. Literatur baut auf Zärtlichkeit gegenüber jedem Wesen auf, das nicht wir selber sind.»
Scham gegenüber den Nachgeborenen
Begonnen hatte Tokarczuk ihre Vorlesung mit einer zärtlichen Erzählerin: ihrer Mutter. Auf die Frage, warum sie auf einem alten Foto traurig aussehe, habe die geantwortet, «sie sei traurig gewesen, weil ich noch nicht geboren war und sie habe mich schon vermisst.» Am Ende sprach Tokarczuk über die, «die noch nicht geboren sind, sich aber eines Tages dem zuwenden, was wir geschrieben haben». Sie denke mit Schuld und Scham an sie, denn Klimakrise und politische Krisen entstünden ja auch aus Gründen, die man nur aus Selbstbezüglichkeit nicht sehe: «Deswegen glaube ich, dass ich Geschichten erzählen muss, als sei die Welt, in der wir leben, eine Einheit, die sich ständig vor unseren Augen bildet, und als seien wir nur ein kleiner und zugleich mächtiger Teil davon.»
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