Wo die Willkür zum Alltag gehört
Das Los der zentralasiatischen «Gastarbejter» ist hart: Sie leben in Slums an Moskaus grossen Ausfahrtsstrassen, leisten harte Arbeit – und leben in stetiger Angst vor den Milizionären, die sie erpressen und ausnehmen. Russlands neue Proletarier sind rechtlos.
Meterlange Eiszapfen hängen draussen an den Blechplatten. Aber Awas Acharow drinnen schwitzt. Er sitzt an dem Kanonenofen, aus dessen angerissener Eisenwand die Hitze lodert, und erzählt, was am Tag zuvor geschehen ist. «Wir sind aus dem Trolleybus gestiegen, keine fünf Schritte gegangen, und schon waren die Milizionäre da. Sie hielten uns fest und sagten, meine Papiere seien gefälscht.» Acharow erzählt seine Geschichte völlig unaufgeregt. Er hat sich daran gewöhnt, dass Unglück zu seinem Alltag gehört. Er und seine sechsköpfige Familie hausen in einer aus Bauabfällen zusammengezimmerten 14 Kubikmeter grossen Hütte. In Tschelobitjewo, einem Slum, der hinter dem Mitischtschinski-Baumarkt am Moskauer Autobahnring in den letzten Jahren entstanden ist.
Acharow ist 44 Jahre alt, er hat einst auf einer Kolchose Bauer gelernt, ist Usbeke mit tadschikischem Pass und einer jener Arbeitsimmigranten in Russland, von denen niemand weiss, ob es nun vier oder neun Millionen davon gibt. Rechtlos sind sie, das neue Proletariat im postsowjetischen Kapitalismus. «Gastarbejter», wie die Russen auf Deutsch spotten.
Pass und Geld abgenommen
«Die Milizionäre verlangten Geld. Aber diesmal wollte ich nichts geben», sagt Acharow. «Ich hatte 4000 Rubel dabei, von einer Hilfsorganisation, um den Kindern etwas zum Anziehen kaufen.» Die Milizionäre nahmen ihn und seine zwei Söhne mit auf die Wache, nahmen ihm das Geld – 130 Franken – und seinen Pass weg. Dann jagten sie ihn und die beiden Buben wieder auf die Strasse. Bachrom Chamrojew, Moskauer Bürgerrechtler mit usbekischem Pass, stellte die Miliz später zur Rede. Die Beamten erklärten ihm, man brauche zur Prüfung der Echtheit des Passes eine «Expertise». Das war Ende Januar. Die Expertise ist immer noch nicht abgeschlossen. Nun steht Acharow jeden Morgen mit ein paar Hundert anderen Gastarbeitern ohne Pass beim Baumarkt und wartet, in der Hoffnung, dass einer der Moskowiter, der hier Material und Werkzeug kauft, auch Verwendung für ihre Arbeitskraft findet – steuerfrei, für einen Tageslohn von neun bis zwanzig Franken. Aber es ist Winter, und Krise herrscht auch in Russland – seit Wochen wartet Acharow vergeblich.
«Wir halten zusammen»
Moskau hat offiziell 10,5 Millionen Einwohner. Zusätzlich leben etwa vier Millionen mehr oder weniger legal Zugereiste aus der russischen Provinz und den GUS-Staaten dort. Die Mehrheit von ihnen hat es in den vergangenen Jahren auf die andere, die innere Seite des Moskauer Autobahnrings geschafft. Dort hausen sie in Wohnheimen, Baucontainern, Kellern und in den Rohbauten der Baustellen, auf denen sie gerade arbeiten.
Einige haben auch richtige Wohnungen: zum Beispiel Safdar, ein 26-jähriger, tadschikischer Stuckateur aus dem Pamirgebirge, der sich zwei Zimmer mit vier Kameraden teilt. «Im Pamir kennt jeder jeden, wir halten auch hier zusammen», sagt Safdar. «Wenn einer Arbeit findet, gibt er den anderen Bescheid.» Safdar ist seit elf Monaten in Moskau, er hat inzwischen gelernt, Bodenplatten zu verlegen und Fenster und Türen zu setzen. Er hat auf Baustellen gearbeitet, wo er umgerechnet 1200 Franken im Monat verdiente. Das meiste Geld überwies er an seine Familie. Er zeigt stolz das Foto eines vergnügten Kleinkindes auf dem Display seines Handys: «Meine Tochter Orion.»
Aber auch Safdar ist Gastarbeiter, oder «Schwarzarsch», wie der russische Volksmund Leute aus Asien nennt. «Meine Arbeitserlaubnis und meine Anmeldung sind echt. Aber wenn mich Milizionäre kontrollieren, behaupten sie das Gegenteil. Das kostet dann meist 500 Rubel», also 15 Franken. Safdar weiss von Kollegen, dass die Milizionäre bei den Kontrollen auch willkürlich Arbeitserlaubnisse oder Pässe zerreissen.
Offiziell gibt es strikte Quoten zur Regelung, wie viel Immigranten aus welchen Staaten in welchen russischen Regionen leben und arbeiten dürfen. 2008 hatten insgesamt rund 3,4 Millionen Ausländer die Erlaubnis, einer Erwerbstätigkeit in Russland nachzugehen. Aber vielerorts, auch in Moskau, war die Quote nach wenigen Monaten ausgeschöpft, der Bedarf in der boomenden Bauindustrie allerdings keineswegs. Abhilfe schafft in solchen Situationen das russische Allheilmittel: die Korruption.
Um den Lohn betrogen
Überall in der Moskauer U-Bahn kleben Flugblätter mit Hinweisen: «Anmeldung, Arbeitserlaubnis und Gesundheitszeugnis, ohne Vorauszahlung. Ab 300 Rubel». Private Zwischenhändler, die gemeinsame Sache mit bestechlichen Beamten machen, verkaufen die nötigen Papiere für umgerechnet 18 bis 180 Franken. Dann zieht die Miliz diese je nach Laune als Fälschung wieder ein. Wer nicht wie ein echter Russe aussieht, dessen Arbeitserlaubnis ist a priori verdächtig. Wenn die jungen Männer aus dem Pamir zusammen U-Bahn fahren, geht Safdars Freund Dschamschet immer vor. Dschamschet studiert Wirtschaft an einer Moskauer Universität, er lenkt die Aufmerksamkeit der Milizionäre, die an den Metro-Stationen lauern, auf sich, weil er mit seinem Studentenausweis am ehesten ungeschoren davonkommt.
Die Miliz ist allerdings nur eine der Gefahren, welchen die Gastarbeiter in Moskau ausgesetzt sind. Safdar baute zwei Monate lang an der Fassade eines Hochhauses mit Wohnungen im Moskauer Norden. Als er danach seinen Lohn von fast 1500 Franken abholen wollte, war sein Vorarbeiter plötzlich verschwunden. Safdar beschwerte sich bei der Bauleitung, doch diese drohte ihm nur, die Miliz zu informieren, und jagte ihn fort. «Was sollte ich tun?», sagt Safdar. «Das hier ist nicht unser Land.»
Es gibt keine Statistik, wie oft Moskauer Bauunternehmer den Gastarbeitern den Lohn vorenthalten. Safdar hat einen Fünftel seiner Zeit in Moskau umsonst gearbeitet. Acharow, der Tagelöhner, sagt, bei ihm würden die meisten Bauherren bezahlen. Verträge erhalten die Bauarbeiter allerdings praktisch bei keiner Firma, von Kranken- oder Unfallversicherungen ganz zu schweigen.
Der Tadschike Fahrid ist 51-jährig und war früher Physiklehrer in Duschanbe. Seit drei Jahren renoviert er in Moskau Wohnungen, erzählt, wie er mit sechs Kollegen in einem städtischen Neubau Tapeten klebte. «Am Zahltag kamen Einsatzpolizisten. Sie nahmen uns fest, drohten mit Abschiebung und verlangten 2000 Rubel von jedem, um uns laufen zu lassen.»
Verhöhnt und offen angefeindet
Moskau kennt kein Erbarmen. In TV-Komödien werden usbekische Handwerker als Deppen verspottet, die ihr Obst in der WC-Schüssel waschen. Die populäre Autorin Oxana Robski «entlarvt» in ihrem Bestsellerroman «Morgen kommt das Glück» den tadschikischen Hilfsgärtner als Boss einer Kidnapperbande. Die «Schwarzärsche» werden von den Russen nicht nur verlacht, sie werden angefeindet, und das ganz offen. Im Januar empfing die Junge Garde, die Jugendorganisation der Putin-Partei Einiges Russland, einen Zug voll Gastarbeitern aus Zentralasien am Bahnhof mit Transparenten mit den Parolen «Illegale sind Diebe» und «Unser Geld für unsere Leute».
In dieser Stimmung machen Skinheads ungeniert Jagd auf «Nichtslawen». Laut dem Moskauer Sova-Zentrum gab es zwischen Januar und November 2008 349 rassistische Gewalttaten mit 82 Todesopfern. Die Moskauer Staatsanwaltschaft heizte Anfang Februar die Stimmung zusätzlich an: Die «Zugezogenen» hätten im vergangenen Jahr 70 Prozent aller Vergewaltigungen und 40 Prozent aller Morde in der Hauptstadt begangen, liess sie verlauten. Meist seien die Taten nur schwer nachzuweisen, weil die Täter – meist Ausländer aus den GUS-Staaten – sich illegal in Moskau aufhielten. Mit anderen Worten: Vergewaltiger und Mörder, die nicht erwischt wurden, müssen Gastarbeiter gewesen sein.
Traum von eigener Werkstatt
Wohl fühlt sich in Moskau kaum ein Immigrant. In den vergangenen drei Monaten sei die Zahl der täglichen U-Bahn-Passagiere um 200000 gesunken, meldet die Zeitung «Iswestija» – weil viele Bauarbeiter wegen der Krise in ihre Heimat zurückgekehrt seien. Auch Safdar würde am liebsten nach Hause zurück. «Aber ich bleibe noch sechs, sieben Monate.» Er sucht noch einen richtig guten Job. Danach will er zu Hause im Pamir mit ein paar Freunden eine Autowerkstatt aufmachen. «Für Werkzeuge und Hydraulik brauchen wir 3000 Dollar. Bauen können wir selbst.» Vier, fünf Monate Schwerarbeit unter schlimmen Bedingungen trennen ihn von diesem Traum – wenn er den Lohn für die Arbeit erhält, und wenn die Skinheads ihn nicht erwischen.
Versteckt im Wald
Auf dem Kanonenofen brodeln zwei Teekessel, Acharow bricht eine neue Packung Würfelzucker an. «Wozu sollen wir zurück nach Tadschikistan?», fragt er. «Zum Hungern und zum Frieren?» Es gibt viel Brennholz im Slum, Holzabfälle vom Baumarkt. Es gibt eine Wasserpumpe, ein paar wackelige Imbissbuden, ein Kilo Gerste kostet dort einen Franken. Und es gibt Nachbarn, Schicksalsgenossen, meist junge kräftige Männer mit einfachen Gesichtern und billigen Wollmützen. Aber es gibt hier keinen Schutz.
Zwei-, dreimal im Monat taucht die Einsatzpolizei im Slum auf. «Die Polizisten sammeln Geld und Handys ein», sagen die Gastarbeiter. Awas' Frau Daskal erzählt, das letzte Mal hätten die Polizisten ihre beiden Kinder in den Frost geschleppt, «um 500 Rubel aus uns herauszupressen» – 16 Franken. «Sie verprügeln Leute. Sogar die Gläubigen in der kleinen Moschee, die die Leute sich gebaut haben», sagt der Bürgerrechtler Bachrom Chamrojew. Gemäss einem Bericht von Human Rights Watch zwingen Milizionäre Gastarbeiter inzwischen auch zur Arbeit auf privaten Baustellen. Viele Asiaten verbergen sich inzwischen in den Wäldern um Moskau.
Der Baumarkt am Moskauer Autobahnring ist riesig. In einer Gasse stehen ein halbes Dutzend Milizionäre herum. Sie machen saure Gesichter. Vor ihnen liegt auf einem Stück Karton die Leiche eines jungen Gastarbeiters. Totenstarre oder Frost haben seine Knie gekrümmt. Ein junger Gastarbeiter, der heute von einem Lastwagen gefallen ist. Der Tote hat keine Träume mehr und keine Angst. Und nichts, was man ihm noch abnehmen könnte.
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