Wie Pflegequalität durchleuchtet wird
Nach den Übergriffen auf demenzkranke Menschen in einem Zürcher Pflegeheim stellt sich die Frage: Wer garantiert die Pflegequalität in Heimen und Spitälern? Ein Augenschein im Alters- und Pflegeheim Sunnsyta in Ringgenberg, das sich seit Jahren von Expertinnen begutachten lässt.
Auf dem Tisch des Sitzungszimmers liegt viel Papier. Christine Müller, Pflegeexpertin der Pflegezertifizierungsstelle Concret AG («Pflegequalität sichern und fördern») sitzt jenen Personen gegenüber, die für die Pflege und Betreuung der 43 Bewohnerinnen und Bewohner im Altersheim Sunnsyta in Ringgenberg verantwortlich sind: Heimleiter Ruedi Renfer, Pflegedienstleiter Beat Guntern, seiner Stellvertreterin Barbara Michel und der Pflegeexpertin Barbara Christen, die seit Jahren einen kritischen Blick von aussen auf den Pflegealltag im «Sunnsyta» wirft.
Es ist etwa die Rede davon, wie das Leitbild des Heims im Alltag umgesetzt wird – in Bezug auf die Bewohnerinnen und Bewohner, ihre Angehörigen und das Personal. Wie die Fähigkeiten der Bewohner noch besser genutzt und gefördert werden könnten. Wie die Personal-Ressourcen zu optimieren wären und wie man den Hausdienst vermehrt in den Pflegealltag einbeziehen könnte. Man spricht über das Palliativkonzept und das Schmerzmanagement, über das Hygienekonzept und über Kynästhetik, über Dokumentationsanalyse und Dekubitusprävention. Über Bewohner- und Mitarbeiterzufriedenheit. Und über Werthaltungen.
«Um Himmels willen»
Szenenwechsel. Zimmer 304. Helene Herzog, 94-jährig, vierfache Grossmutter und seit einiger Zeit auch Urgrossmutter, ist glücklich und zufrieden. Sie hat im «Sunnsyta» ein schönes, geräumiges Zimmer mit prächtiger Aussicht auf den Brienzersee. Sie sei «nun hier zu Hause», wie sie sagt: In ihrem «Stübli», das sie nach ihrem Gutdünken eingerichtet hat – «zum Beispiel mit dem Buffet dort, das ich schon seit sechzig Jahren habe».
Die Betreuung und Pflege sei sehr liebenswürdig, sagt sie. Man gehe auf ihre Wünsche und Bedürfnisse ein, und wenn es ein Problem gebe, habe sie eine persönliche Bezugsperson, der sie sich besonders gut anvertrauen könne. Und im Übrigen seien die Tage ausgefüllt: «Am Montag liest uns Heimleiter Ruedi Renfer vor, am Dienstag haben wir Gedächtnistraining und am Nachmittag Handarbeiten, am Mittwochmorgen Turnen, am Freitag Singen. Nur am Donnerstag haben wir frei. Und das ist ja auch etwas wert.» Es sei alles freiwillig, doch sie mache möglichst viel mit – aber nur, wenn sie deswegen nicht die TV-Serie «Um Himmels willen» verpasse.
«Schlimm – und unbegreiflich»
Von den Übergriffen auf demenzkranke Bewohnerinnen im Zürcher Pflegeheim Entlisberg hat auch Helene Herzog gehört. «Schlimm», sagt sie, «unbegreiflich. Es darf doch nicht sein, dass man Menschen, die sich nicht wehren können, so missbraucht.» So etwas könne sie sich hier nicht vorstellen: «Nein. Es sind alle sehr nett. Und sie fragen immer, ob sie hereinkommen dürfen – oder ob sie stören.» Barbara Michel, die stellvertretende Pflegedienstleiterin, freut sich natürlich über solch positive Rückmeldungen. Doch: Qualität in der Pflege sei nicht selbstverständlich, betont sie – sie müsse immer wieder hinterfragt, neu erarbeitet und verbessert werden.
Im Altersheim Sunnsyta arbeite man deshalb seit mehreren Jahren mit der Zertifizierungsstelle Concret AG zusammen – und dies mit Erfolg: «Die Pflegequalität hat sich bei uns deutlich verbessert. Das gesamte Pflegeteam verfolgt seither die gleichen Ziele – wobei alles auf das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner ausgerichtet ist.» Was auf den ersten Blick als umständlicher Papierkram anmute, sei in Tat und Wahrheit «eine Summe vieler einzelner Faktoren, die man mit Concret erarbeitet hat und an denen ständig gearbeitet wird. Dies macht letztlich die Pflegequalität aus».
Das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner habe viele Facetten: Von der Wohnlichkeit der Zimmer mit individuellen Gestaltungsmöglichkeiten («die Leute sollen doch ein Stück ihrer früheren Wohnung ins Heim mitnehmen können») über die Pflegequalität und die ausgewogene Ernährung («mit Mitbestimmungsmöglichkeiten») bis zum Veranstaltungsangebot. Es wäre zwar schön, im Pflegealltag weniger Zeit für Administratives aufwenden zu müssen und mehr Zeit für die Bewohnerinnen und Bewohner zu haben, sagt Barbara Michel. Der Zusatzaufwand für die Pflege-Qualitäts-Steigerung komme jedoch «eins zu eins den Bewohnern zugute».
«Das kann überall passieren»
Übergriffe wie jene im Zürcher Pflegeheim Entlisberg schliesst Barbara Michel auch im «Sunnsyta» nicht grundsätzlich aus. Auch wenn sie «gar kein ungutes Gefühl» habe, sei es die Pflicht jeder Pflegeleitung, in Zukunft «vermehrt hellhörig zu sein und nicht wegzuschauen». Deshalb würden alle Äusserungen von Bewohnern, die auf einen Missstand hinweisen könnten, sehr ernst genommen. Es bleibe für sie jedoch «unverständlich und nicht nachvollziehbar, was sich in Zürich ereignet hat».
Auch Heimleiter Ruedi Renfer kann sich «nicht zusammenreimen, wie man als Pflegende so etwas tun kann». Gewaltereignisse könne es jedoch in jedem Altersheim geben – «wenn plötzlich jemand in einer Drucksituation die Nerven verliert und in irgendeiner Weise Zwang anwendet». Oder wenn etwa eine Pflegende auf allfällige Anzüglichkeiten eines Bewohners auch mal unwirsch reagiere.
«Ausgezeichnete Erfahrungen»
Die erste Bestandesaufnahme durch Concret fand im Heim Sunnsyta 2002 statt, weil damals der allmähliche Wandel Altersheim zum Pflegeheim Schwierigkeiten bereitet hatte. Die Erfahrungen seien ausgezeichnet, betont Renfer – auch durch die Impulse, die von der aussenstehenden Pflegeexpertin Barbara Christen kämen: «Es ist viel gegangen. Wir haben beispielsweise das Bewegungskonzept Kynästhetik eingeführt. Und dank Concret sind wir stets gezwungen, unsere Arbeit zu hinterfragen und die Vorgaben zu erfüllen.»
Letztlich sei aber wichtig, dass die Mitarbeitenden in einem Alters- und Pflegeheim «die ihnen anvertrauten alten Menschen gernhaben, sie schätzen – und auch etwas über ihre Geschichte wissen».
«Wir sind keine Polizistinnen»
Concret-Pflegeexpertin Christine Müller hat im Heim Sunnsyta auch diesmal wieder sehr positive Eindrücke gewonnen – und die vielen Gespräche mit dem Leitungsteam, mit Angestellten, Bewohnerinnen und Bewohnern auch kritisch überprüft. «Wenn wir zum Beispiel das Hygienekonzept durchleuchten», sagt sie, «lesen wir nicht nur den Hygieneordner durch. Wir schauen auch, wie das Konzept umgesetzt wird – bis zur Überprüfung des Ausgusses.»
Sie seien allerdings keine Polizistinnen, betont sie, sondern fachliche Beraterinnen.
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