Best of Mamablog: WhataboutismWie geht man gegen Elternwelt-Erklärerinnen vor?
Im Netz, auf Spielplätzen oder im Supermarkt: Überall werden Mütter und Väter ungefragt mit Meinungen und Belehrungen bombardiert. Das nervt.
Es sind Sommerferien, auch für unsere Mamabloggerinnen und Papablogger. Daher publizieren wir diese Woche Beiträge, die besonders viel zu reden gaben. Dieser Beitrag erschien erstmals am 9. Mai 2022.

Vor ein paar Wochen postete ich aus Recherchegründen auf meinen sozialen Medienkanälen: «Wer hat Erfahrung mit spielzeugfreiem Kindergarten in der Suchtprävention?» Ähnlich wie damals, als ich kurz nach der Geburt meines ersten Sohnes in einem Babyforum die Frage stellte, was für ein «Nuggi» andere Eltern empfehlen und mir sogleich erklärt wurde, wie schlecht «Nuggis» sind und auch Schoppen und, wenn wir schon dabei sind, auch Windeln oder Kitas – gab es auch auf meine Spielzeugfrei-Frage erst einmal keine Antwort, sondern eine kritische Gegenfrage: «Sind Kindergarten-Kinder nicht etwas klein für suchtpräventive Massnahmen?»
Jemand anders kommentierte trotz Augenzwinker-Smiley sichtlich angespannt: «Jetzt gehören also Spielzeuge auch ‹gecancelt›? Böse, böse Spielzeugindustrie!» Und ein weiterer «Facebook-Freund» kommentierte, natürlich ebenfalls ohne auf meine Frage nach der Erfahrung mit dem spielzeugfreien Kindergarten einzugehen: «Die beste Suchtprävention ergibt die Familie und die Erziehungsmethodik.» Immerhin antwortete der grösste Teil konstruktiv auf meine Frage.
Emotional und distanzlos
Ich weiss – diese Kindererklärerinnen-Kommentare sind keine neue Erscheinung, doch seit Jahren «triggern» sie mich immer und immer wieder und lassen mich über mögliche Kontras und Wege aus dem Phänomen nachdenken. Denn ist es nicht immer wieder erstaunlich, manchmal gar schockierend, wie emotional und distanzlos auf Themen, die Kinder oder Eltern betreffen, reagiert wird? Nicht nur im Netz, auch auf Spielplätzen, an Elternabenden, in Vereinen, bei der Mütter- und Väterberatung oder gar im Supermarkt beim Einkaufen. Überall werden Kinder oder Eltern ungefragt mit Meinungen, Gegenfragen und Belehrungen bombardiert.
Manchmal überlege ich am Morgen, ob ich heute die Kraft habe, mit meiner Tochter in ein Tram zu steigen.
Ein Beispiel: Ich erinnere mich, wie ich vor 17 Jahren mit meinem Sohn – er war damals ein paar Monate alt – ein Einkaufszentrum besuchte und nach Wochen Stillkampf, tiefen Augenringen und einem schreienden Baby im Tragetuch nach einem Schoppenpulver fragte. Damals kannte ich das Beantwortungsmuster bei Baby-Themen noch nicht, lernte aber dank der Angestellten umgehend dazu. Sie fragte mich in einem belehrenden Ton mit hochgezogenen Augenbrauen, ob ich denn wisse, dass ich mindestens ein halbes Jahr voll stillen könnte. Also sollte. Oder eigentlich müsste.
Zuerst versuchte ich es ruhig: «Ja, ich weiss. Und dennoch möchte ich ein Schoppenpulver kaufen». Sie fragte, ob ich die Stillberaterin konsultiert hätte und redete einfach weiter. Erst nachdem ich ihr laut und den Tränen nahe (schlaflose Nächte lassen mich zu einem heulenden und aggressiven Zombie mutieren) zurückgab, sie müsse mir nicht erklären, was ich schon tausend Mal gelesen habe und ich würde sonst einen anderen Supermarkt besuchen, bewegte sie sich in Richtung Milchpulver-Regal.
Heute bin ich zweifache Mutter. Mit meiner Tochter, die eine Behinderung hat, erlebe ich eine noch viel heftigere Liga von Übergriffigkeiten. Manchmal überlege ich daher am Morgen, ob ich heute die Kraft habe, mit ihr in ein Tram zu steigen oder einen Supermarkt zu besuchen. Sie kann mit ihren knapp acht Jahren kaum sprechen und schreit daher oft. Immer wieder erklären mir deswegen fremde Menschen, wie ich mein Kind erziehen soll, damit es in der Öffentlichkeit angepasster wird. Ohne etwas von ihrer Behinderung oder Kommunikation zu wissen oder zu verstehen.
Belastend und erschöpfend
Was ich hier schildere, ist den meisten Menschen, die mit Kindern – mit oder ohne Behinderung – zu tun haben, bekannt. Dennoch gibt es dazu kaum ein Buch, ein Konzept oder eine Studie, geschweige denn eine Sensibilisierungskampagne oder eine Bekämpfungsstrategie. Warum eigentlich nicht? Diese Kommentare und Gegenfragen sind nämlich belastend und erschöpfend. Und ich behaupte hier – ohne Bezug auf eine wissenschaftliche Studie, da es sie ja eben gar nicht gibt – je nachdem, wie oft und wie man diesen Kommentaren ausgesetzt ist, machen sie Eltern krank.
Die Elternthemen-Besserwisserei erinnert mich zudem an «Mansplaining», an das Phänomen, wenn Männer den Frauen die Welt erklären. Die amerikanische Publizistin Rebecca Solnit schrieb ein ganzes Buch darüber, die Geschlechterforschung setzt sich ebenfalls damit auseinander. Warum? Weil es Frauen erschöpft und hindert, weiterzukommen. Auch das Phänomen des «Whataboutism», bei dem es vor allem darum geht, vom eigentlichen Thema abzulenken, es gar zu ignorieren oder es mit einer kritischen Gegenfrage herunterzuspielen, findet sich in der Art und Weise wieder, wie Fragen oder Anliegen von Eltern oftmals behandelt werden.
Vielleicht ist es an der Zeit, auch den Eltern-Whataboutism zu untersuchen und Sensibilisierungs-Workshops darüber zu entwickeln. Ich würde mich sofort als Studienteilnehmerin zur Verfügung stellen. Oder braucht es eine Bewegung, ähnlich wie es sie bei #MeToo gab? Ein Hashtag, der darauf sensibilisiert, wie übergriffig die Welt mit Eltern umgeht?
Zugleich Opfer und Täterin
Wobei es dabei zu bedenken gilt: Eltern können Opfer und Täterinnen zugleich sein. Oder ist es ihnen noch nie passiert, dass sie andere Eltern verurteilt oder beurteilt haben oder, anstatt auf ihre Fragen zu antworten, einen Vortrag zum Thema hielten? Ich zumindest tappte schon mehrmals in die Falle. Der einfachste und schnellste Weg aus der Misere ist daher vermutlich zu prüfen, ob wir selbst Eltern-Erklärer sind – so wie es auch bei «Mansplaining» oder «Whataboutism» empfohlen ist. Und damit die Elternwelt etwas besser zu machen.
Die britische Autorin Kim Goodwin hat vor ein paar Jahren ein hilfreiches Diagramm via Twitter geteilt, mit welchen Fragen Männer ihr eigenes «Mansplaining» erkennen können. Ich finde, es dient auch in der Eltern-Welt als perfekte Vorlage. Gemäss dem Diagramm sollten wir uns fragen:
Ist meine Erklärung erwünscht? (Wenn ja, umso besser. Wenn nein: Klappe halten. Bei Unsicherheit fragen: «Willst du meine Erklärung dazu hören?)
Schätze ich die Kompetenz meines Gegenübers korrekt ein? (Eltern kennen ihr Kind meistens am besten, ergo sind sie oftmals auch kompetenter als fremde Menschen).
Wie beeinflusst meine Befangenheit oder Sozialisierung meine Interpretation der ersten beiden Fragen? (Erklären wir den Vätern unter Umständen mehr als den Müttern und verurteilen wir Mütter schneller als Väter? Wir alle sind geprägt von Geschlechterrollen oder Mutterbildern. Sie zu hinterfragen, ist manchmal unangenehm, bringt einen aber weiter).
Was denken Sie? Ist meine Interpretation übertrieben? Sollte man solche Kommentare einfach ignorieren? Und wie gehen Sie damit um?
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