Corona an Berner Schulen Wie ein Newsletter zur Aufhebung der Massnahmen führte
Das Ziel, Covid-Ansteckungen an den Schulen möglichst zu verhindern, hat der Kanton Bern unlängst aufgegeben. Wie schlau diese Strategie ist, darüber streitet die Fachwelt.

Vergangene Woche versammelte sich eine Gruppe Eltern vor dem schmucken Sandsteingebäude an der Speichergasse 6, dem Haus der Kantone. Vor der Treppe übergaben sie eine Petition mit gut 2500 Unterschriften zuhanden der Generalsekretärin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), Susanne Hardmeier.
Maskenpflicht im Unterricht, regelmässige Massentests, Klassen-Quarantänen bei Krankheitsfällen – bis vor kurzem waren all diese Massnahmen noch an praktisch allen Schweizer Schulen in Kraft. In den letzten Wochen fielen sie aber Stück für Stück weg. Die Eltern, die ihre Interessensgruppe #ProtecttheKids nennen, fordern in ihrer Petition die Wiedereinführung dieser Massnahmen. Angesichts einer drohenden neuen Infektionswelle im Herbst müsse man jene Kinder, die sich nicht impfen lassen können, besser vor Infektionen schützen.

«Medizinisch nicht gerechtfertigt»
Anfang Oktober hat die bernische Gesundheitsdirektion die Schutzmassnahmen an Schulen ein weiteres Mal gelockert. Ausbruchstests erfolgen neu erst ab drei positiven Fällen pro Klasse, Masken müssen nur noch in Ausnahmesituationen getragen werden, und Quarantäne-Verordnungen für ganze Schulklassen soll es gar keine mehr geben.
Der Zeitpunkt dieses Entscheids kam nicht ganz zufällig. Zwei Wochen zuvor veröffentlichte Pädiatrie Schweiz, die offizielle Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendmediziner, ein Positionspapier. Zwar sagt die Berner Gesundheitsdirektion (GSI) heute, dass das Papier in ihrem Entscheidungsprozess bloss «eine untergeordnete Rolle» gespielt habe. Fakt ist aber, dass die Berner Behörden die Empfehlungen der Kinderärzte auf ihrer Website und auch in den sozialen Medien immer wieder geteilt haben. «Die Informationen im Papier decken sich im Grossen und Ganzen mit unseren Beobachtungen», sagt GSI-Sprecher Gundekar Giebel dazu.
Das Papier hat es in sich. Eine Fachgruppe von Infektiologen unter der Leitung von Christoph Aebi, Chefarzt der Universitätsklinik für Kinderheilkunde am Berner Inselspital, äussert sich darin zu verschiedenen Punkten der Pandemie. Die Ärztinnen und Ärzte kommen zum Schluss, dass Kinder in den letzten Monaten zur «Zielscheibe belastender Massnahmen» geworden seien, die «medizinisch nicht gerechtfertigt» sind. Die Massnahmen sollten deshalb auf ein «unerlässliches Minimum» reduziert werden.
Das Papier wirft aber Fragen auf. So äussert sich Pädiatrie Schweiz beispielsweise überhaupt nicht zu potenziellen Langzeitfolgen bei Ansteckungen («Long Covid»), die auch Kinder betreffen können. Weiter behaupten die Kinderärzte, dass der Durchseuchungsgrad in manchen Kantonen bereits 40 Prozent betrage – obwohl diese Zahl in bisher keiner bekannten Studie vorkommt. Und umstritten ist auch die Aussage, dass die Schweizer Teststrategie so angelegt sei, «dass die Durchseuchung bei den unter 6-Jährigen und teilweise auch bei den 6- bis 12-Jährigen» bewusst zugelassen werde.
Eltern üben Druck aus
Mehrere Schweizer Epidemiologinnen und Epidemiologen, darunter auch Christian Althaus von der Uni Bern und Isabella Eckerle von der Uni Genf, kritisieren das Positionspapier von Pädiatrie Schweiz scharf. Die Epidemiologen kommen zu einem ganz anderen Schluss als die Pädiater. Sie sind der Meinung, dass es an den Schulen weiterhin Schutzmassnahmen wie Masken, Massentests und bei Krankheitsfällen Quarantäne-Verordnungen brauche. «Der Schutz von Kindern ist nicht nur ein moralisches Gebot, sondern wird uns auch helfen, die epidemische Situation unter Kontrolle zu halten und einen unterbrechungsfreien Schulbetrieb während des kommenden Winters zu gewährleisten», heisst es in ihrer sechsseitigen Stellungnahme.
Diese Kritik nahmen besorgte Eltern umgehend auf. Interessengruppen wie #ProtecttheKids, «Sichere Schule» oder «Kinder schützen – jetzt!» üben seither – vor allem über die sozialen Medien – Druck auf die Politik aus. Neben der Petition veröffentlichten sie auch einen offenen Brief an Pädiatrie Schweiz, mit einem langen Fragekatalog.
Die Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendmediziner äusserte sich seither nicht mehr öffentlich zur Thematik und liess auch den offenen Brief unbeantwortet. Nun aber nimmt Christoph Aebi, einer der verantwortlichen Autoren des Positionspapiers von Pädiatrie Schweiz, erstmals zu den Kritikpunkten Stellung.
Kinder leiden unter Massnahmen
Grundsätzlich sei das Dokument als Newsletter mit «Kurzinformation für unsere Mitglieder» gedacht gewesen. «Es handelt sich nicht um eine Studie», stellt Aebi klar. Dass das Thema «Long Covid» in ihrem Papier komplett ausgeklammert wird, sei aber so beabsichtigt. «Die Daten sind noch sehr lückenhaft», so Aebi.
Erste Erkenntnisse aus Grossbritannien und der Schweiz würden zeigen, dass nur etwa ein bis zwei Prozent der Kinder und Jugendlichen drei Monate nach der Covid-Infektion noch Symptome haben. «Das sind mehrheitlich milde Beschwerden wie Husten, Kopfschmerzen oder Müdigkeit, die sich nicht selten auch nach anderen Virusinfektionen finden», so Aebi.
Für die Behauptung, dass der Durchseuchungsgrad in manchen Kantonen bereits 40 Prozent betrage, liegen tatsächlich noch keine publizierten Daten vor, so Aebi. Allerdings lag der Durchseuchungsgrad bei der letzten Erhebung im Frühjahr 2021 in manchen Kantonen bereits bei 20 Prozent. «Besonders wegen der hochansteckenden Delta-Variante rechnen wir deshalb mit einer deutlichen Zunahme», sagt Aebi.
Für die Aussagen zur Teststrategie von Pädiatrie Schweiz gebe es derweil klare Fakten. Die nationale Teststrategie vom Herbst 2020 besagt, dass Kinder unter 12 Jahren nur bei klaren Symptomen, wie etwa Fieber und starkem Husten, getestet werden. «Es war aber von Anfang der Pandemie an klar, dass auch sehr viele Kinder mit minimalen oder gar keinen Symptomen infiziert sind», so Aebi. Es sei deshalb nie das Ziel gewesen, flächendeckend alle Infektionen bei dieser Altersgruppe zu suchen.
Die letzten eineinhalb Jahre hätten gezeigt, dass das neue Coronavirus für Kinder und Jugendliche deutlich weniger gefährlich sei als RSV- und als Influenzaviren. «Wir hatten im Inselspital bisher 78 Hospitalisierungen von Kindern, die positiv auf Covid-19 getestet waren.» Bei circa der Hälfte dieser Fälle war das Virus aber nicht einmal der Hauptgrund für die Spitaleinlieferung.
Für Aebi ist deshalb klar, dass die bis zu den Herbstferien geltenden Massnahmen an Schulen medizinisch nicht notwendig waren. «Umso mehr, wenn wir sehen, dass viele Kinder und Jugendliche stark unter den Massnahmen leiden.» Psychische Beschwerden wie Depressivität und Angststörungen hätten «um ein Vielfaches» zugenommen, so Aebi.
Keine Durchseuchungsstrategie
Die Verunsicherung bei einigen Eltern bleibt aber weiterhin gross. Das liegt auch daran, dass die Politik bisher nicht offen kommunizierte, dass die aktuelle Massnahmen-Politik tatsächlich auf eine Durchseuchung hinausläuft – und dies gemäss den Schweizer Kinderärzten auch verhältnismässig ist.
Dass im weiteren Verlauf der Pandemie wohl alle Leute mit dem Virus in Kontakt kommen, will GSI-Sprecher Gundekar Giebel nicht absprechen. «Wir können langfristig keine Ansteckungen verhindern.» Personen über 12 Jahre könnten aber einen kontrollierbaren Verlauf der Pandemie mitbestimmen, indem sie sich impfen lassen. «Kinder überstehen eine Ansteckung meist völlig ohne Probleme», so Giebel. Dennoch will der Kanton Bern nicht von einer Durchseuchungsstrategie an den Schulen sprechen. Das widerlege etwa die Tatsache, dass bei Ausbrüchen nach wie vor getestet wird, so Giebel.
Allerdings ist fraglich, wie sinnvoll diese Ausbruchstests überhaupt sind, wenn erst nach drei positiven Fälle in einer Klasse getestet wird. Die EDK hat derweil den Erhalt der Petition von #ProtecttheKids bestätigt. Eine Antwort werde in den nächsten Tagen folgen, heisst es auf Anfrage.
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