Repression im BotschaftsviertelWie die Stadt Bern unbequeme Stimmen zum Schweigen bringt
Wer in Bern vor einer ausländischen Botschaft seine Meinung kundtut, muss mit Bussen rechnen. Das zeigen zwei aktuelle Beispiele.

Mittwochmorgen, ein junger Mann steht vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland. Auf den ersten Blick geht es um eine Lappalie: Er wehrt sich gegen eine Busse von 150 Franken, welche die Stadt Bern ihm letztes Jahr auferlegt hat. Beim genauen Hinsehen geht es an diesem Vormittag vor Gericht aber um viel mehr, nämlich um eine Grundsatzfrage: Wie stark darf der Staat das Recht auf freie Meinungsäusserung einschränken?
Zur Vorgeschichte: Der junge Mann stand am 21. Februar 2022 kurz nach 14 Uhr an der Tramhaltestelle Thunplatz, rund 30 Meter von der britischen Botschaft entfernt. Um seinen Hals trug er ein 40 mal 40 Zentimeter grosses Pappschild mit der Aufschrift «Free Assange». Er forderte damit die Freilassung des australischen Politaktivisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange, der seit April 2019 in Grossbritannien in Haft sitzt.
Neben dem Mann war an diesem Tag auch eine Frau mittleren Alters vor Ort. Auch sie trug ein Pappschild mit der Aufschrift «Free Assange» bei sich. Beide werden vor Gericht aussagen, dass sie unabhängig voneinander entschieden haben, an diesem Tag vor die britische Botschaft zu kommen. Das hat damit zu tun, dass zwei Leute mit Pappschildern im Berner Botschaftsviertel offenbar bereits als Kundgebung durchgehen.
Was ist eine Kundgebung?
Das Kundgebungsreglement der Stadt Bern umfasst zwölf Gesetzesartikel und ist seit 2006 in Kraft. Was genau die Definition einer «Kundgebung» ist, wird im Reglement aber bis heute nur schwammig geregelt. Im Gesetzestext ist die Rede von «Veranstaltungen, welche einen ideellen Inhalt und eine Appellfunktion haben und von mehreren Personen getragen werden».
Aus Sicht der Berner Sicherheitsdirektion von Gemeinderat Reto Nause (Die Mitte) erfüllten die beiden Personen mit ihren Pappschildern die Voraussetzungen für eine Kundgebung. Nachdem die Kantonspolizei Bern den Vorfall der städtischen Orts- und Gewerbepolizei rapportierte, stellte die städtische Behörde nämlich den beiden Assange-Sympathisierenden eine Gemeindebusse aus. Den Mann büsste die Stadt mit 150 Franken, die Frau sogar mit 350 Franken, weil sie schon am Tag zuvor mit dem Schild vor Ort gewesen sei.

Grund für die Busse: Die beiden hätten für ihre angebliche «Kundgebung» vorgängig eine Bewilligung einholen müssen. Weil die Stadt gemäss Reglement nur Organisatoren und keine Teilnehmende von Demos büssen darf, erklärte sie die beiden prompt zu Co-Organisatoren.
Zwar erhoben der Mann und die Frau in Folge Einsprache gegen ihre Busse. Die Staatsanwaltschaft gab der Stadt Bern allerdings in erster Instanz recht, weshalb es nun zum Prozess kam.
Friedensflagge als Beweisstück
Das Recht auf freie Meinungsäusserung ist ein Grundrecht, festgehalten sowohl in der Bundesverfassung als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eingeschränkt werden darf dieses Recht eigentlich nur in absoluten Ausnahmefällen, etwa wenn die nationale Sicherheit gefährdet ist.
Im Berner Botschaftsviertel scheinen allerdings etwas andere Massstäbe zu gelten. Dass die Sicherheitsbehörden das städtische Kundgebungsreglement dazu benutzen, um unangenehme Situationen vor Botschaften zu verhindern, entspricht nämlich einem gewissen Muster. Das zeigt ein weiterer Fall, der sich im letzten Frühjahr ereignete.
Am 24. März 2022 wollten sechs Mitglieder von Amnesty International Schweiz dem russischen Botschafter eine Petition mit 15’000 Unterschriften überreichen. Die Petition forderte den sofortigen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine.

Lisa Salza, Kampagnenleiterin von Amnesty International Schweiz, sagt, dass sie persönlich vor der geplanten Übergabe sowohl den russischen Botschafter als auch die Kantonspolizei kontaktiert habe. Dennoch fuhr kurz nach Eintreffen der Amnesty-Delegation der Botschaftsschutz der Kapo Bern auf.
Die Übergabe konnte in Folge nicht stattfinden. Stattdessen büsste die Stadt Bern Lisa Salza mit 300 Franken. Auch sie habe keine Bewilligung für ihre «Kundgebung» eingeholt, lautete die Begründung. Dass es sich bei der Petitionsübergabe um eine Demo handelte, machten die Behörden mutmasslich unter anderem an einer Friedensflagge fest, welche die Aktivistinnen und Aktivisten bei sich hatten. Dies sei ein «Demonstrationsutensil», so die städtische Sicherheitsdirektion.
«Wir nehmen dieses Vorgehen als völlig willkürlich und unverhältnismässig wahr», sagt Lisa Salza. «Offenbar versuchen die Berner Behörden, friedliche Versammlungen in Sicht- und Hörweite von Botschaftsgebäuden möglichst zu verhindern.» Auch sie hat gegen ihre Busse Einsprache erhoben, die Einvernahme folgt noch.
Salza prangert insbesondere an, dass die Praxis der Berner Behörden einen sogenannten «chilling effect», also eine abschreckende Wirkung, auslöse. «Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass, wer schon einmal gebüsst wurde, das Risiko einer erneuten Geldstrafe nicht eingeht und es sich zweimal überlegt, sein Recht auf freie Meinungsäusserung wahrzunehmen.» Dies auch, weil die Stadt im Wiederholungsfall die Bussen laufend erhöht.
«Erhöhtes Risikopotenzial»
Die städtische Sicherheitsdirektion verteidigt ihre Vorgehensweise auf Nachfrage. Die Praxis, nur Delegationen von wenigen Personen vor ausländischen Botschaften zuzulassen, sei in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), dem Bundessicherheitsdienst und der Kantonspolizei entwickelt worden. «Diese Handhabung hat sich bewährt», heisst es in der Stellungnahme.
Kundgebungen und Versammlungen vor Botschaften würden ein «erhöhtes Risikopotenzial» aufweisen, so die Sicherheitsdirektion. Inwiefern die sechsköpfige Delegation von Amnesty International respektive die beiden Assange-Sympathisierenden ein Risiko darstellen, führt die Stadt Bern allerdings nicht aus. Schlussendlich sei die Kantonspolizei bei Kundgebungen für die Lageeinschätzung vor Ort zuständig, heisst es auf Anfrage.
Die Kapo Bern sagt, dass sie mögliche Verstösse gegen das Kundgebungsreglement lediglich bei den städtischen Behörden melde. Ob diese Vorfälle gebüsst werden, liege dann im Ermessen der Stadt selbst.
Urteil folgt nächste Woche
Zurück in den Gerichtssaal des Regionalgerichts Bern-Mittelland. Die Befragung der beiden Assange-Sympathisierenden dauert lediglich eine halbe Stunde. Die Frau – welche ihren eigenen Gerichtstermin in zwei Wochen hat – fungierte dabei vorerst als Auskunftsperson.
Die Anwältin des Mannes bekundete im Anschluss ihr Unverständnis, dass der Staat in diesem Fall überhaupt interveniert habe. Bei zwei Personen auf einem Platz könne keine Rede von einer Kundgebung sein. «Und für eine öffentliche Meinungsäusserung braucht es keine Bewilligung», so ihr Fazit.
Die Staatsanwaltschaft blieb der Verhandlung fern und verzichtete auf ein Abschlussplädoyer. Das Regionalgericht Bern-Mittelland will sein Urteil im Fall kommenden Mittwoch bekannt geben.
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