Hotspots der ZuwanderungWie die 9-Millionen-Schweiz den Kanton Bern verändert
Am Beispiel des Berner Viererfelds wird diskutiert, wie viel Wachstum verträglich ist. Derweil findet das Wachstum im Kanton grösstenteils anderswo statt.

Über die Ostertage publizieren wir aufsehenerregende Texte der letzten Monate nochmals. Dieser Artikel erschien erstmals am 8. März 2023.
Noch ist das Viererfeld nüchtern betrachtet nur ein brachliegender Acker am Berner Stadtrand. Doch ein Bauprojekt, durch das Bern auf einen Schlag um 3000 Personen Zuwachs erhält, wird selten nüchtern betrachtet.
Deshalb ist die geplante Überbauung zur Projektionsfläche für alles Mögliche geworden – die Bandbreite reicht von städtebaulichen und ökologischen Bedenken bis hin zur grundsätzlichen Wachstumskritik.
Beispiele gefällig? Als Reaktion auf einen Meinungsbeitrag zur Viererfeld-Abstimmung vom 12. März schreibt eine Leserin in einem Kommentar:
«Das Monstervorhaben zerstört eine kostbare, als Naherholungsgebiet benötigte Landschaftskammer von grosser Schönheit.»
Ein Leser äussert grundsätzlich Kritik am Wachstum der Stadtbevölkerung. Mit Verweis auf die Folgen für die Stadtberner Infrastruktur hält er fest:
«Aus meiner Sicht müsste bei 130’000 Einwohnern Schluss sein.»
Sorgen über Zuwanderung nehmen zu
Mit ihrer Wachstumskritik stehen die beiden nicht allein da. Zwar war Berns Bevölkerungszahl Mitte der 1960er-Jahre mit über 165’000 deutlich höher als heute. Aber die Frage, wie viel Zuwanderung verkraftbar ist, lässt sich auf die gesamte Schweiz übertragen.
Im jüngsten Tamedia-Sorgenbarometer wird die Zuwanderung hierzulande neu als drittgrösstes Problem bezeichnet, gleich nach den Gesundheitskosten und der Altersvorsorge.
Das (Un)wort «Dichtestress» aus dem Jahr 2014 feiert im Wahljahr 2023 ein Comeback.
Dass die Schweizer Bevölkerung in den letzten Jahren rasant gewachsen ist, ist unbestritten. Und der Wachstumskurs dürfte anhalten. In seinem wahrscheinlichsten Szenario geht das Bundesamt für Statistik (BFS) davon aus, dass die Schweiz im Jahr 2040 die 10-Millionen-Grenze überschreiten wird.
Für den Kanton Bern stellen sich folgende Fragen: Wo genau findet das Bevölkerungswachstum statt? Wie eng ist es, objektiv betrachtet, in den letzten Jahren geworden – und was bringt die Zuwanderung den Boomgemeinden überhaupt?
Der Wachstumsmotor brummt anderswo
Aufschluss geben Zeitreihen des BFS. Diese zeigen: In den letzten zehn Jahren ist Berns Bevölkerung verglichen mit anderen Kantonen nicht etwa über-, sondern unterdurchschnittlich gewachsen.
Zwischen Ende 2011 und 2021 wuchs die Schweizer Bevölkerung um rund 12 Prozent. Diejenige des Kantons Bern dagegen lediglich um gut 6,3 Prozent, von 985’046 auf 1’047’473 Personen. Das Wachstum fand also hauptsächlich anderswo statt.
«Es liegt auf der Hand, dass die wirtschaftliche Dynamik und Faktoren wie etwa das hohe Berner Steuerniveau massgeblich auf die Bevölkerungsentwicklung einwirken», erklärt Daniel Wachter, Vorsteher des kantonalen Amts für Gemeinden und Raumordnung (AGR).
Mit anderen Worten: Die meisten Zugewanderten zog es dorthin, wo die Auswahl an Jobs grösser und die Steuern niedriger sind als in Bern – etwa in die Kantone Freiburg, Zug, Schwyz oder Zürich.
Wachstum ausserhalb der Zentren
Unbestritten ist, wo genau die neuen Einwohnerinnen und Einwohner idealerweise wohnen sollten: in den urbanen Kerngebieten. So will es das revidierte Raumplanungsgesetz, das statt auf Einzonungen auf Verdichten setzt, um der Zersiedelung Einhalt zu gebieten.
Bloss: Gelungen ist dies im Kanton Bern nur teilweise, wie die Auswertung zeigt. Am stärksten gewachsen sind nicht die Zentren und ihre Agglomerationen, sondern die Gemeinden, die am Rand eines Ballungsraums oder etwas ausserhalb davon liegen; Gemeinden auf den Hauptverkehrsachsen zwischen Bern, Biel, Solothurn und Thun.
Unter den fünf Gemeinden, die seit Ende 2011 am stärksten gewachsen sind, liegen vier im Seeland. Mit einem Wachstum von über 34 Prozent führt Pieterlen (4953 Einwohnerinnen und Einwohner) die Liste an. Aegerten, die Nummer zwei, legte von 1729 auf 2289 Einwohnerinnen und Einwohner zu. Betrachtet man lediglich die grössten Berner Gemeinden, wuchsen einzig Lyss, Ostermundigen und Münsingen im zweistelligen Prozentbereich.
Gemäss dem kantonalen Richtplan zählen mit Ausnahme Ostermundigens sämtliche dieser Boomgemeinden zum Raumtypus «Agglomerationsgürtel und Entwicklungsachsen mit Zentren». Sie wüchsen schneller als die Zentren und die urbanen Kerngebiete, bestätigt Daniel Wachter vom AGR.
Bern, Biel und Burgdorf sowie die Agglomerationsgemeinde Köniz haben zwar ihr Siedlungsgebiet seit 2011 ebenfalls erweitert. Ihr Wachstum fällt aber weniger hoch aus. Von den Grossen am geringsten gewachsen sind Thun und Langenthal (plus 2 Prozent).
Zentrumsgemeinden wie Bern oder Thun können allein schon wegen ihrer Grösse prozentual weniger schnell wachsen. Zudem gibt es in den Zentren weniger freie Flächen als in kleineren oder mittleren Gemeinden am Rand der Ballungszentren. Die Bautätigkeit ist deshalb tiefer und die Wohnungsknappheit entsprechend grösser.
Wachstumsskepsis nimmt zu
Hinzu kommt jedoch, dass Wachstum sowohl von grösseren als auch von kleineren Gemeinden immer kritischer hinterfragt wird. «Kasse durch Masse» – für viele entpuppte sich diese Strategie als Trugschluss, wie das Beispiel des Berner Wachstumschampions Pieterlen zeigt.
Die Seeländer Gemeinde wollte nach einer langen Phase der Stagnation wieder wachsen und zonte entsprechend viel Bauland ein. «Die Geschwindigkeit des Wachstums und die Menge an Mehrfamilienhäusern hat uns aber überrascht und war ungesund», sagt Gemeindepräsident Beat Rüfli (FDP). Nun wolle die Gemeinde «auf keinen Fall» weiterwachsen, weil die Infrastruktur sonst an ihre Grenzen komme. «Wir erleben aber die Situation, dass die Investoren ihre mehrheitlich grösseren Überbauungen renditekonform füllen möchten.»

Selbst in der Stadt Bern und in den Reihen der SP ist die Wachstumsskepsis angekommen. Genauer: die Skepsis gegenüber den Folgen des Wachstums.
«In den letzten zehn Jahren sind in Bern 2586 Schülerinnen und Schüler neu dazugekommen. Das entspricht 130 Schulklassen», sagte Kristina Bussmann, Leiterin Immobilien, an der SP-Delegiertenversammlung Ende Januar. Sie betont: «Falls die Wachstumsprognosen tatsächlich eintreffen, wissen wir nicht, wie wir das Wachstum stemmen sollen.» Denn dafür bräuchte es ein neues Schulhaus in der Grösse des Schulhauses Brünnen und eine neue Turnhalle – und zwar pro Jahr.
Das geplante Wachstum stelle für die Stadt Bern eine Herkulesaufgabe dar, räumt auch Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) ein. Er warnt: «Stadtwachstum ist keine Finanzierungsmaschine.» Zwar seien von 2011 bis 2021 die Steuererträge natürlicher Personen um gut 18 Prozent auf rund 356 Millionen Franken gestiegen. Doch reichten die zusätzlichen Einnahmen wohl nicht aus, um die Ausgaben zu decken – auch im Fall der Überbauung Viererfeld nicht.
Übt er Kritik an der eigenen Wachstumsstrategie?
Stadtwachstum dürfe und müsse durchaus kritisch hinterfragt werden, antwortet Aebersold. «Als Naturwissenschaftler sagt mir mein Verstand, dass wir nicht ewig weiterwachsen können.» Da das Bevölkerungswachstum in der Schweiz aber nun einmal Tatsache sei, solle dieses möglichst klimaverträglich und platzsparend in den Städten und Agglomerationen stattfinden, so der städtische Finanzdirektor.
Dieses Bekenntnis knüpft er indes an eine politische Forderung: «Wenn Städte schon die Hauptlast des Wachstums schultern müssen, soll sich der Kanton über den kantonalen Finanzausgleich stärker an den Kosten beteiligen.»
Heute würden 25,4 Millionen Franken der Zentrumslasten vom kantonalen Finanzausgleich nachweislich nicht abgegolten. Dass die Verdichtung der Städte ein zentraler Faktor gegen die weitere Zersiedelung des Landes sei, müsse jedoch anerkannt werden, so Aebersold. «Der Kanton sollte darum endlich die Zentrumslasten vollständig abgelten.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.