Wer oben ist, will kein Rom mehr sein
Die kurze Reise zu den Roma im «anderen» Rumänien, im Schatten der boomenden Metropole Bukarest, führt zur Erkenntnis: Der schwierige Prozess, die Roma einzugliedern ohne gleichzeitig ihre Selbstaufgabe zu verlangen, hat in Rumänien erst begonnen.

Was um Himmels willen wollen Sie dort! – Kaum eine Rumänin und kaum ein Rumäne, die ich kenne, haben je einen Fuss in die Quartiere Rahova und Ferentari im Süden der Millionenstadt Bukarest gesetzt. Viel zu gefährlich. Und zu peinlich für Rumänien sind die «Zigeuner-Slums». Ich fahre also in eine andere Welt, deren Existenz «normale» Rumänen zwar erahnen, aber am liebsten abstreiten würden. Gemäss dem Nationalen Statistikamt Rumäniens leben rund 530000 Roma in Rumänien. Alle seriösen Schätzungen gehen indes von einer deutlich höheren Zahl aus, einige sogar von 2 bis 2,5 Millionen. Demnach wären bis zu 10Prozent der rumänischen Bevölkerung Roma. Der Anteil der Roma an der jeweiligen Gesamtbevölkerung ist somit nur in der Slowakei (rund 9,3 Prozent) und in Bulgarien (rund 8,7 Prozent) vergleichbar hoch. Zabraut¸i, Bukarest. Ein paar Wohnblocks im Süden Bukarests, kaum zwei Kilometer Luftlinie vom Parlamentsgebäude entfernt, dem megalomanen Ceauçescu-Bau im Herzen der Stadt. Vor Ort: Fünfstöckige Plattenbauten. Jedes zweite Fenster ist ausgeschlagen. Graffiti an den Wänden. Zwischen den eng aneinander gebauten Blöcken türmt sich Müll. Die Menschen werfen den Abfall einfach aus dem Fenster. Im Vorhof schlafen fünf oder sechs Roma auf dem Boden, eingewickelt in Wolldecken. Ihr Fuhrwerk und das Zugpferd stehen daneben. Ist Zabraut¸i die Hölle auf Erden, wie ein deutscher Journalist schreibt? Nein, aber es ist ein anderes Rumänien. Lichtjahre entfernt von den Bentleys und den Maybachs auf Bukarests Boulevards.Diskriminierung als RealitätDie Roma in Rumänien und anderswo haben die Merkmale einer Unterschicht. Ihre Diskriminierung ist eine Realität. Arbeitslosigkeit, Armut, Polizeiübergriffe, fehlender oder zumindest eingeschränkter Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen und zu Wohnraum sind Kernprobleme vieler Roma in Rumänien. Die Lebenserwartung der Roma liegt 10 bis 15 Jahre unter dem Landesdurchschnitt, die Kinderzahl pro Familie dagegen ist weit überdurchschnittlich. Rund die Hälfte der rumänischen Roma ist angeblich weniger als 20 Jahre alt, was die Bevölkerungsstruktur der Roma mit derjenigen der ärmsten afrikanischen und asiatischen Staaten vergleichbar macht. In vielen Roma-Gemeinden ist es nicht unüblich, dass elf- oder zwölfjährige Mädchen verheiratet werden, erzählt die Roma-Expertin Mona Prisacariu von der Soros-Stiftung in Bukarest.Die Roma sind als ethnische Minderheit leicht erkennbar und werden entsprechend ausgegrenzt. Sie sind jedoch keine homogene Gruppe. In Rumänien ist ungefähr die Hälfte der Roma einigermassen assimiliert und spricht auch die Roma-Sprache nicht mehr. Einige wenige haben den sozialen Aufstieg geschafft. Mit dem Aufstieg kommt auch meist der Abschied: Wer oben angekommen ist, will kein Rom mehr sein. Wer gehen konnte, ist gegangenDas Migrationspotenzial der Roma hält Mona Prisacariu für eher gering. Die, die gehen wollten und konnten, seien längst in Italien oder anderswo. Viele, die gehen möchten, seien zu arm, verfügten über keine Netzwerke oder ahnten, dass im Ausland auch nicht alles besser ist. Der Roma-Aktivist Valeriu Nicolae sagt: «Ja, im Moment werden wohl kaum Roma in die Schweiz kommen. Aber warum möchte Europa den Roma die Personenfreizügigkeit am liebsten verbieten? Haben wir kein Recht, unser Glück anderswo zu suchen?»In Rahova und Ferentari gibt es kaum asphaltierte Strassen. Die Sonne scheint an diesem Tag heiss. Ein paar Männer spannen einen Schimmel vor ein Fuhrwerk. Ein paar Strässchen weiter bespritzen sich kleine Romakinder mit Wasser. Sie kreischen vor Freude. Ihr Teint ist dunkel. Ich wähne mich für einen Augenblick in Indien. Die Mutter liegt auf einer Matte am Strassenrand und schläft. Eigentlich wirkt die Gegend gar nicht so unfreundlich. Aber die Armut ist mit Händen greifbar. In der Nacht sieht es hier anders aus: Drogenhandel, Prostitution, Gewalt.Hinter dem Palast die ZelteIch fahre gegen Süden. Plattenbauten bis an den Stadtrand Bukarests. Nach zehn Kilometern biege ich links ab. Dann tauchen die ersten Roma-Paläste von Sintes¸ti auf. Es sind zwanzig, dreissig, fünfzig. Es gibt sie überall in Rumänien. Sie zeugen davon, dass es auch Roma zu etwas bringen können. Doch hinter den Palästen stehen Zelte. Die Soros-Expertin hatte es gesagt: «Schauen Sie hinter die Paläste. Die Roma leben dort in Zelten. Das sind zwei Welten. Die vorne kümmern sich keinen Deut um die, die hinten leben.»Was ist zu tun? Mona Prisacariu wirkt ratlos: «Ich weiss es nicht. Bildung ist sicher wichtig, aber sie ist kein Allheilmittel.» Viele Roma beschwerten sich bei ihr, sie hätten keinen Job. Wenn Arbeitsplätze angeboten würden, lehnten etliche aber ab. Sie wollten mehr verdienen. Alle Experten sind sich einig: Die Probleme lassen sich nicht über Nacht lösen. Es braucht viel Geduld, politischen Willen und Geld.Florentina Marin, die im Bürgermeisteramt des Sektors 5 von Bukarest die Sozialhilfedirektion führt, zeigt auf einer Karte die «Problemzonen» in Ferentari und Rahova. Viele Roma hätten keinen festen Wohnsitz und lebten illegal in Wohnblöcken oder in Baracken. Viele Romakinder gingen nur vier Jahre lang in die Schule – falls überhaupt. Die meisten Roma arbeiteten schwarz. Von den 400 Familien, die im Sektor 5 monatliche Sozialhilfe erhielten, seien drei Viertel Roma. Die Zahl derjenigen, die Hilfe beanspruchen könnten, dürfte weit höher sein.Valeriu Nicolae hebt hervor, dass ein von oben verordneter «Grosser Plan» für die Roma wenig Sinn mache. Auf lokaler Ebene fehle oft die Bereitschaft, sich den Herausforderungen zu stellen, und Vorurteile seien omnipräsent. Umgekehrt müssten sich aber auch die Roma selbst – so findet Nicolae, ein politisch hervorragend vernetzter Rom mit rumänischem und kanadischem Pass – entschlossen gegen die noch immer weitverbreitete «Kultur der frühen Heiraten, des Diebstahls, des Bettelns und der Prostitution» stellen und Selbstverantwortung übernehmen.Frage von Werten und MentalitätLässt sich der Teufelskreis von Armut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung überhaupt durchbrechen? Mona Prisacariu zweifelt den Sinn von Sozialhilfe an. Diese führe bloss in neue Abhängigkeiten und bringe keinen Anreiz, zu arbeiten und sich zu integrieren. Ist die These, mit dem rasant steigenden Wohlstand würden auch die Roma eines Tages in die Mittelschicht aufsteigen, überzeugender? Kaum. Wirtschaftswachstum allein reicht nicht. Es geht vor allem um Werte und Mentalität der Roma – und sehr wohl auch der Nicht-Roma –, und Werte und Mentalitäten lassen sich bekanntlich kaum oder nur über Generationen hinweg ändern. Zugleich darf der Prozess der Anpassung von Werten und Mentalitäten nicht auf Kosten von Traditionen und Identitäten gehen. Aber irgendwo und irgendwann muss man ja anfangen. Diese Gratwanderung hat in Rumänien erst begonnen. *Simon Geissbühler, 1973, hat in Bern und den USA studiert. Er ist Politologe, Osteuropaspezialist und Diplomat. Er lebt seit zwei Jahren in Bukarest, wo er als Botschaftsrat der Schweizer Vertretung arbeitet. Er vertritt hier seine persönliche Meinung.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch