Wenn Patienten ausfällig werden
Wer im Spital mit Patienten arbeitet, bekommt im Schnitt jedes zweite Jahr Aggressionen zu spüren – meist verbal, aber nicht selten auch physisch. Diesen Schluss lässt eine Befragung zu, über welche Forschende der Berner Fachhochschule berichtet haben.
Berichte über Gewalt an Heimbewohnern, wie kürzlich aus Zürich, schockieren – und die Frage, wie häufig Misshandlungen vorkommen, bleibt weitgehend ungeklärt (siehe Text unten rechts). Etwas mehr weiss man jetzt über Gewalt in umgekehrter Richtung: Es scheint zum Pflegealltag zu gehören, dass Patienten oder Angehörige aggressiv werden, bis hin zu körperlicher Gewalt. Diesen Schluss legt eine noch unveröffentlichte Studie nahe, welche diese Woche an der Berner Fachhochschule (BFH, Fachbereich Gesundheit) präsentiert worden ist.
Demnach hat die Hälfte der fast 2500 befragten Gesundheitsfachpersonen – alle aus den Spitalbereichen Therapie, Pflege und Betreuung – in den letzten 12 Monaten bei der Arbeit Aggressionen von Patienten oder Angehörigen erlebt; bezogen aufs ganze Berufsleben, sind es gar 85 Prozent. Aggressives Verhalten war dabei so definiert, dass dabei «eine Person körperlich oder physisch bedroht, attackiert oder verletzt wird» oder auch nur Sachschaden entsteht.
Beschimpfung, Drohung, Angriff
Besonders häufig ist, wie Sabine Hahn, Leiterin Forschung und Entwicklung Pflege an der BFH, berichtete, «Gewalt, die aus der Arbeitsbeziehung zwischen aggressiver Person und Mitarbeitenden hervorgeht», also zum Beispiel bei unangenehmen Verrichtungen oder Mitteilungen: «Je näher dran die Gesundheitsfachpersonen sein müssen, desto wahrscheinlicher ist Aggression gegen sie.» Von den angegebenen Vorfällen betrafen knapp drei Fünftel verbale Aggression und rund je ein Fünftel Drohungen sowie körperliche Angriffe. Sogar bezogen auf die letzte Woche gaben noch 11 Prozent an, Aggression erlitten zu haben; 8,3 Prozent solche durch Patienten, 2,7 Prozent durch Besucher.
Die Zahlen der Befragung entsprechen grob gesehen jenen aus internationalen Studien; allerdings ist die Streubreite gross, auch je nach Definition der Aggression. Laut den meisten von den Forscherinnen beigezogenen Studien sind die Angehörigen ähnlich aggressiv wie die Patienten – anders als in der Schweizer Befragung. Wie Sabine Hahn erläutert, werden Verwandte vor allem verbal ausfällig, etwa wenn sie mit der Pflege nicht einverstanden sind oder als besorgte Eltern finden, mit ihrem Kind müsse «endlich etwas geschehen».
Aus Angst und Verwirrung
Recht häufig müssen Angestellte auch den Kopf hinhalten für «Gewalt, die aus den strukturellen Bedingungen der Organisation hervorgeht» – sei es wegen der Hektik des Betriebs oder umgekehrt wegen langer Wartezeiten. Seltener ist Beziehungsgewalt (mit privatem Hintergrund der Beteiligten), sexuelle Gewalt oder solche zur Beraubung (um Wertsachen oder Drogen). Als häufigste Gründe für die Aggression nannten die Betroffenen Angst der Patienten, Verständnisprobleme und Verwirrung. Am meisten ereignen sich solche Vorfälle in den Notfallstationen. Gefragt, ob Gewalt bei bestimmten Typen von Patienten gehäuft vorkomme, warnt Sabine Hahn vor Stigmatisierung bestimmter Personengruppen. Aber es seien schon vor allem Männer, die aggressiv würden, auch verbal. Menschen mit Suchtproblemen seien ebenfalls stärker vertreten.
Spitze zwischen 50 und 75 Jahren
Dagegen sei bei der Herkunft kein Unterschied festzustellen: Verständigungsprobleme gebe es auch mit Einheimischen. Bei den Altersgruppen stellt Hahn ab 45 eine Zunahme fest, mit einer Spitze zwischen 50 und 75 Jahren. In noch höherem Alter seien es etwa Demenzkranke, die mal dreinschlagen oder kneifen. Aber da verstehe das Personal, dass die Aggression von der Verwirrung herrühre – ähnlich wie zuweilen bei frisch Operierten während des Aufwachens.
Besonders schlimm ist es dagegen für Pflegende, wie Hahn erfahren hat, wenn plötzlich Patienten aggressiv werden, mit denen zuvor ein Vertrauensverhältnis aufgebaut worden ist. «Was habe ich falsch gemacht?», frage sich da die Pflegefachfrau – dabei habe sie vielleicht gar nichts falsch gemacht. Wichtig sei deshalb, dass sich die Betroffenen mit jemandem über ihr Verhalten und jenes der Patienten aussprechen könnten – auch in der Praxis, nicht nur in der Ausbildung (siehe Text unten links).
Ruhig bleiben ist schwer
Ob sie auch selber aggressiv geworden seien, fragten die Forscherinnen die Pflegenden nicht. Aber diese berichteten über die Schwierigkeit, ruhig zu bleiben – wie man ihnen das in der Ausbildung eingeschärft habe. Dass Gewalt auch von Pflegenden ausgehen kann, weiss man aus ausländischen Studien (siehe unten) – «und es wird in der Schweiz nicht anders sein», meint Sabine Hahn. Darauf wiesen auch schweizerische Einzelstudien hin.
In ihrem eigenen Forschungsprojekt ist Hahn jetzt dabei, Pflegende nicht nur rückblickend zu befragen, sondern quasi Tagebuch führen zu lassen: In ausgewählten Pflegestationen in verschiedenen Gebieten der Schweiz wird nach jedem Vorfall ein Fragebogen ausgefüllt, und jeweils zwei Vertrauenspersonen aus der Station reden mit den Betroffenen und mit den Forscherinnen darüber.
Beruhigende Raumgestaltung
Hahn hat vom befragten Pflegepersonal auch schon zu hören bekommen, die Aggressionen seien in den letzten Jahren häufiger geworden. Sie hält das zwar – angesichts ähnlicher Erscheinungen in der gesamten Gesellschaft – nicht für unwahrscheinlich, aber noch nicht für bestätigt. Mehr Aufschluss könnten die laufende Beobachtung und wiederholte Befragungen geben. Zudem müsse man die Komplexität des Gewaltgeschehens – wiederum wie in der Gesellschaft überhaupt – besser ergründen.
Erforscht wird auch – in Zusammenarbeit mit der Berner Hochschule der Künste –, wie sich Räume beruhigend gestalten lassen. Geplant sind Patientenbefragungen, und am Schluss des Projekts sollen Strategien zur Prävention und Intervention stehen.
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