Wenn eine Entführung die letzte Lösung ist
Das Berner Obergericht hat entschieden, dass zwei entführte Kinder in der Schweiz bleiben dürfen.

Die Verzweiflung war gross – so gross, dass eine syrische Mutter die Entführung ihrer Kinder als letzten Ausweg sah, um vom gewalttätigen Vater wegzukommen. Das Berner Obergericht, das den Fall behandelte, konstatiert, dass die Kinder illegal in die Schweiz gebracht wurden. Dennoch dürfen Mutter und Kinder in der Schweiz bleiben – nicht zuletzt weil die Tochter es so wollte.
Ende 2014 floh der Syrer und Vater dreier Kinder nach Dänemark. Sein Asylantrag wurde von den dänischen Behörden gutgeheissen. Nach einem halben Jahr rückten die zwei Söhne, die Tochter und die Ehefrau nach, im Rahmen des Familiennachzugs. Bei der Ankunft im neuen Land erklärte die Mutter jedoch, sie wolle auf keinen Fall mit dem Ehemann gemeinsam leben. Nach einem halben Jahr bei der Mutter entschied der älteste Sohn, zum Vater zu ziehen. Die beiden jüngeren Geschwister blieben bei der Mutter.
Flucht nach Bern
Während der Zeit in Dänemark wandte sich die Frau mehrmals an die Polizei – der Ehemann würde sie schlagen, ihr mit dem Tod drohen. Im Sommer 2016 hielt sie es nicht mehr aus. Sie liess ihren Erstgeborenen in Dänemark zurück und floh mit den beiden jüngeren Kindern nach Bern. Der weiterhin in Dänemark wohnhafte Vater beantragte in der Folge die Rückführung der entführten Kinder, basierend auf dem Haager Übereinkommen über Kindesentführungen. Das Abkommen, welches neben der Schweiz 85 weitere Staaten unterzeichnet haben, stellt sicher, dass entführte Kinder innerhalb dieser Länder wieder zurückgebracht werden.
Ein Blick auf die Statistik zeigt: 2018 wurden 27 Anträge, wie sie der syrische Vater aus Dänemark an die Schweiz stellte, verzeichnet. Häufiger ist nach wie vor, dass Kinder aus der Schweiz ins Ausland verschleppt werden. Vergangenes Jahr verlangten 68 Anträge die Rückführung der Kinder.
Der Fall landete beim Obergericht des Kantons Bern. Nicht nur die Sicht des Vaters und der Mutter wurde angehört, sondern auch die der Tochter. Der jüngste Sohn war noch zu klein, um Aussagen zu machen. Das Geschwisterpaar wurde zu einer Schicksalsgemeinschaft vereint. Das Mädchen erzählte, sie wolle ihren Vater und den ältesten Bruder nie mehr sehen. Zudem habe sie grosse Angst davor, dass ihre Mutter vom Vater umgebracht werde, wenn sie wieder nach Dänemark gehen müssten. Die Gutachter kamen zum Schluss, dass Mutter wie auch Kinder stark traumatisiert waren. Besonders den Kindern drohe erheblicher psychologischer Schaden, wenn sie nach Dänemark zurückkehren müssten. Der Antrag des Vaters wurde abgewiesen.
Das Kind im Fokus
«Das Gericht hat gut entschieden», sagt Andreas Bucher, emeritierter Professor für internationales Privatrecht. Bemerkenswert am Urteil sei, dass der Wille des Kindes hoch gewichtet worden sei. Das sei nicht immer so. «Auf kantonaler Ebene häuft es sich, beim Bundesgericht ist es nach wie vor selten.»
Auch Stephan Auerbach begrüsst das Berner Urteil. Er arbeitet als Mediator in solchen Fällen. Zwar räumt er ein: «Für den Elternteil, der zurückbleibt, ist das natürlich zuerst einmal eine grosse Enttäuschung.» Positiv stimmt ihn der Entscheid aus der Sicht der Kinderrechte. Bei der Organisation Internationaler Sozialdienst Schweiz (SSI) setzt er sich dafür ein, dass die Kinder stärker berücksichtigt werden. «Ein sorgfältiges psychologisches Gutachten und eine unabhängige Rechtsvertretung für das Kind sind in solchen Fällen entscheidend.» Ab wann ein Kind den eigenen Willen klar formulieren kann, ist nicht genau definiert. «In der Regel ab 11 bis 12 Jahren», sagt Auerbach.
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