Wenn Autobahnen Bergtäler bewegen
Um die Autobahn ins Simmental zu verhindern, wurden in den 1980er-Jahren schweizweit Unterschriften gesammelt. Die Strasse wurde nicht gebaut. Anders im Hinterrheintal.

Die schmale Strasse schlängelt sich den Felsen entlang ins Iffigtal. Vorne herrscht Steinschlaggefahr, hinten gibt es ein paar Gehöfte und Chalets. Den Gasthof Alpenrösli. Dann ist die Fahrt zu Ende. Weiter geht es nur zu Fuss durch wadentiefen Schnee. Ein lautes Rauschen. Über hundert Meter stürzt das Wasser den Iffigfall hinunter und fliesst weiter an die Lenk. Rund um den Wasserfall steht ein Wäldchen. Die malerische Szenerie ist eine Steilvorlage für Touristiker. Sie bewerben den Wasserfall als Sehnsuchtsort mit «starker Anziehungskraft», wo es «glitzert wie von Zauberhand».
Vor einem halben Jahrhundert waren die Sehnsüchte noch irdisch – aus Blech und Erdöl. Die Motorisierung bringe den Fortschritt, war man überzeugt. Bereits in der 30er-Jahren gab es Pläne, am Rawilpass eine Passstrasse mit einem Scheiteltunnel zu bauen. Und so weibelten die Unternehmer für die vom Bund angedachte vierspurige Autobahnverbindung durchs Simmental und für den Rawiltunnel zwischen der Lenk und dem Wallis. Man hoffte auf mehr Gäste und Aufträge.
Hoffnung im Bündnerland
Mit hundert Stundenkilometern geht es bergaufwärts. Zusammen mit dem Bett des wilden Hinterrheins füllt die Autostrasse zuhinterst im Hinterrheintal beinahe den gesamten Talboden aus. Die vorletzte Ausfahrt vor dem San-Bernardino-Tunnel führt in die schöne Valsergemeinde Hinterrhein. 66 Einwohner. Ein Gasthof. Das Dorfsträsschen ist schneebedeckt mit Spuren von Kinderschlitten. Es rauscht von der nur einen Steinwurf entfernten Autostrasse. Wenn ein Sattelschlepper oder Bus vorbeifährt, brummt und pfeift es zusätzlich.
Im hinteren Rheintal wurde die Nationalstrasse gebaut, die A 13. Kernstück ist der San-Bernardino-Tunnel, der das Hinterrheintal mit dem Misox verbindet. 1965 wurde der Tunnel eröffnet – mit einem grossen Fest. «Wir haben uns sehr gefreut», erinnert sich der Gemeindepräsident und Biobauer Georg Trepp. «Man hoffte auf den Aufschwung.» Damals war der humorvolle, stämmige Mann noch ein kleiner Bub.
Ein Graben durchs Dorf
Im Simmental wurde weder die Autobahn noch der Tunnel gebaut. 1986 stellte der Bundesrat das Strassenprojekt definitiv ein: Das Projekt war zu teuer, die Strassenverbindung zu wenig wichtig. Aus der Bevölkerung kam zudem viel Widerstand – die eingereichte nationale Volksinitiative «Keine Autobahn durchs Simmental» setzte die Regierung unter Druck.
Die Wirtin des Alpenrösli im Lenker Iffigental schiebt ein Scheit in den Holzofen. «Wäre die Autobahn gebaut worden, wären wir längst weggezogen», sagt sie. Das Alpenrösli stünde nämlich unter einem der Viadukte. Auch mit dem Iffigfall hätte die Lenk fortan nicht mehr werben können: Das Nordportal des Rawiltunnels sollte einen Steinwurf vom Becken des Wasserfalls entfernt in den Berg und ins Wallis führen. Mit dem Tunnelaushub sollte neben dem Wasserfall zudem ein grosses Plateau aufgeschüttet werden – als Raststätte. «Wir haben uns gewehrt», sagt die Wirtin und schiebt ein weiteres Holzstück in die Glut. Das Holzscheit knackt. Die Frau schweigt.
Hier an der Lenk spricht man ungern über Autobahn und Tunnel, die nie gebaut wurden. «Das Tal war wegen des Autobahnprojekts heillos zerstritten», sagt Hans Forrer. Die Konfliktlinien gingen mitten durchs Dorf, so wie auch die geplante Nationalstrasse verlaufen wäre. Der einstige Kurdirektor Forrer engagierte sich in den 1970er-Jahren an der Seite von Bauern und Naturschützern erfolgreich gegen das Projekt. Der heute 85-Jährige ist überzeugt, dass er auf der richtigen Seite stand: Die Lenk profitiere bis heute davon, dass die Nationalstrasse nicht gebaut worden sei. Das findet auch der heutige Tourismusdirektor Albert Kruker. Die «Einzigartigkeit» des «schönen Talabschlusses» und die «Echtheit von Natur und Kultur» habe nur so erhalten werden können. Das schätzten auch die Gäste. Die Übernachtungszahlen stiegen bis 2014 stetig an. Die Ruhe und dezentrale Lage wurden zum Standortvorteil. An der Lenk trauert darum niemand mehr dem Tunnel nach – zumindest nicht öffentlich.
«Die meisten fahren vorbei»
«Die A 13 ist unsere Lebensader», sagt dagegen Georg Trepp. Er sitzt in der getäfelten Stube seines Hauses in Hinterrhein. Man sei nun viel schneller im 60 Kilometer entfernten Chur. Deshalb blieben die Jungen heute öfter im Dorf. Gleichwohl: Der erhoffte Aufschwung ist weitgehend ausgeblieben. Daraus macht Trepp keinen Hehl. Die Wertschöpfung durch die Autobahn sei bescheiden. «Die meisten fahren vorbei.» Hinten beim Tunnelportal gibt es ein Hotel. Seit zehn Jahren steht es leer. Zurzeit ist es eingeschneit.
Die Erreichbarkeit sei wichtig für den Erfolg eines Tourismusgebiets, sagt Professor Bruno Abegg von der Universität Innsbruck. Der Wirtschaftsgeograf beschäftigt sich mit Fragen des Tourismus. Für Tagesausflügler aus den Zentren sei das Skigebiet Splügen, an dem auch die Gemeinde Hinterrhein beteiligt ist, trotz der A 13 immer noch zu dezentral gelegen. Eine gute Strassenverbindung sei zudem nur einer von vielen Faktoren. «Mit einer Autobahn alleine ist es nicht getan.»
Innovative Bergbauern
Bisher zeigte sich das kleine Hinterrhein immer wieder innovativ: Vor kurzem eröffnete im Dorf wieder ein Restaurant – in einem ehemaligen Geissstall. Hier können sich die Wanderer und Skitourengänger verpflegen, die eine der wenigen Ferienwohnungen gemietet haben. Der Kleinbetrieb läuft so gut, dass er eben ausgebaut worden ist. Früh erkannt haben die Bauern im Tal auch den Trend zu Bioprodukten. 1992 stellten sie ihre Produktion allesamt um. Ihr Bündner Bergkäse wird seither in hippen Bioläden in Deutschland und in der Schweiz von Coop verkauft. Im Dorf selbst gibt es einen Tante-Emma-Laden, der allerdings im Herbst schliessen wird. Trepp fragt sich besorgt, wo künftig die Älteren einkaufen sollen.
Trepps Haus vibriert. Immer dann, wenn ein Sattelschlepper über eine Unebenheit auf der Fahrbahn der Autostrasse rattert, eine Fehlkonstruktion. Der Bund hat sich vor kurzem bereit erklärt, den Mangel zu beseitigen und gleichzeitig die Strasse abzusenken. Trepp hofft auf mehr Ruhe in seinem Haus und im Dorf.
Der «Slum» der Skiorte
Lärmig ist es auch bei Hans Matti. Der Informatikunternehmer im Pensionsalter lebt an der Simmentalstrasse in Reidenbach bei Boltigen. Wer an die Lenk, nach Zweisimmen oder Gstaad fährt, kommt bei ihm vorbei. «Die Dörfer im vorderen Simmental verkommen zum Slum der Touristenorte.» Sie stürben aus, sagt er nachdenklich. Tatsächlich finden sich an vielen Häusern entlang der Hauptstrasse Schilder mit der Aufschrift «Zu verkaufen». Nur zu Tiefpreisen finden die Häuser einen Käufer, sagt Matti. Es sei zu laut, zu stinkig, zu gefährlich für Kinder. In Boltigen schloss kürzlich der letzte Lebensmittelladen.
Dass man die Autobahn nicht gebaut habe, sei «das Dümmste, was man machen konnte», sagt Matti. Er kämpft weiterhin für Umfahrungsstrassen, als Einzelkämpfer. Denn ohne Durchgangsverkehr, so fürchten die meisten, werde das Gewerbe ganz zusammenbrechen. Die Bauern wollen ihr Kulturland zudem nicht an die neue Strasse verlieren. «Deshalb bin ich der Böse», sagt Matti.
Seinen Kampf glaubt er verloren. Und so setzt er sich für verkehrsberuhigende Massnahmen und tiefere Geschwindigkeiten ein. Dazu hat er sich für über 5000 Franken eigens ein Messgerät gekauft. Mit diesem misst er die Geschwindigkeit aller vorbeifahrenden Fahrzeuge. 75 Prozent fahren zu schnell, wie seine Testergebnisse zeigen. Das Gerät zählt aber auch alle Fahrzeuge. Matti misstraut der offiziellen Verkehrszählung des Kantons.
Die «schlechte Strasse»
Im Hochsommer passieren an einem durchschnittlichen Samstag über 5000 Fahrzeuge die Hauptstrassen in Boltigen. Zum Vergleich: Auf der A 13 im bündnerischen Andeer sind es drei Mal mehr. Auch hier befand sich die Durchgangsstrasse bis vor 50 Jahren mitten im Dorf. Der Bau der Autobahn hat die Strukturen in der auf halber Strecke zwischen Chur und Hinterrhein gelegenen 1000-Seelen-Gemeinde stark verändert. Aus dem Bauerndorf ist ein Wohndorf geworden, sagt Gemeindepräsident Hans Andrea Fontana. Viele pendeln täglich nach Chur.
«Die Autobahn ist ein Segen, aber auch ein Fluch», findet Fontana. Letzteres immer dann, wenn sich der Verkehr auf der Autobahn staut. «Dann stinkt es und lärmt es im ganzen Tal.» Der Ausweichverkehr legt dann auch die Strasse in den Dörfern lahm. Man sitzt fest. In der Thermalquelle Andeer bleiben die Gäste aus. Dann ist die A 13 durch die Viamala-Schlucht für die Talbewohner nicht mehr Lebensader, sondern schlicht wie vor Hunderten von Jahren wieder die «Viamala», die schlechte Strasse.
Die Sorgen der «Truckeroma»
Besonders schlimm ist die Situation dann, wenn sich der Verkehr am Gotthard staut. Dann ist der San Bernardino die einzige Ausweichroute – auch weil die Rawilautobahn nicht gebaut wurde. Wie die meisten im Tal hofft deshalb auch Elsbeth Battaglia auf ein Ja zur zweiten Gotthardröhre. Dies, obwohl sie von der A 13 lebt. Battaglia betreibt den Kiosk beim Tunneleingang bei Hinterrhein.
Die Chauffeure nennen die Kioskfrau liebevoll «Trucker-Oma». Seit 24 Jahren decken sich die «Lastwägeler» bei ihr mit Sandwiches, Zigaretten und Getränken ein. Doch wenn es Stau hat, essen die Fahrer am Steuer – und fahren für einmal sogar an Battaglias Kiosk vorbei.
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