Weite Welt: Massaker in Montreal
Nachmittags um viertel vor vier sind nur wenige Menschen im Cinéma Beaubien. Ist es des Themas oder des angekündigten Eisregens wegen? Auch ich hätte wohl noch länger gezögert, mir den Film «Polytechnique» von Denis Villeneuve anzusehen, wenn ich nicht eine Deadline für diese Kolumne gehabt hätte.Vor fast 20 Jahren, am 6. Dezember 1989, erschoss ein junger Mann am Polytechnikum Montreal vierzehn Studentinnen. Als er den Unterrichtsraum betrat, schrie er: «Ich hasse Feministinnen!» Er befahl den Männern, den Raum zu verlassen. Sie gehorchten. Dann erschoss er vierzehn Frauen. Bevor er sich selbst tötete, verletzte er im Gebäude neun weitere Frauen und vier Männer. Der Grund für diese unfassbare Tat? Er hatte die Aufnahmeprüfung nicht bestanden und richtete seine Wut auf Frauen, die seinen, wie er glaubte, rechtmässigen Platz einnahmen.Was geht hier vor? Die Länge des tödlichen Moments und was ihm vorausgeht, ist unbegreiflich. In dieser Stadt haben Feministinnen – und nicht nur diese – sich wieder und wieder über eines entsetzt: Der Täter befiehlt den Männern hinauszugehen – und sie tun es. Im Film hört man die Stimme des Dozenten, der sie zur Eile antreibt. Dann sehe ich die Augen der Studentinnen, die sich in einer Ecke aneinanderdrängen, fassungslos. Sie stehen unter Schock. Der Täter hat in die Decke geschossen, der Schuss hallt noch nach. Was geht hier vor? Sie können auf keine vergleichbare Situation zurückgreifen. Einer der verschonten Studenten hat sich ein Jahr später erhängt, später brachten sich seine Eltern um.Der Täter hinterliess einen Abschiedsbrief und eine Liste mit Namen bekannter Feministinnen, die er ebenfalls umbringen wollte. Darin erklärte er seine Tat als politischen Akt, auch wenn man ihn hinterher als Verrückten abstempeln würde. Genau dies geschah. Der Brief blieb jahrelang in Polizeigewahrsam. In den Medien diskutierten Psychiater und Kriminologen über den verrückten Täter. Obwohl klar war, dass das Massaker sich nicht nur gegen Frauen richtete, sondern gegen angehende Ingenieurinnen, die einen Platz in einer männlichen Domäne beanspruchten, wurden Feministinnen nicht als Expertinnen eingeladen.Bis ins Mark getroffenSeit zwei Wochen ist der Film in den Kinos. Er wird für seine Sensibilität gelobt. Zu Recht. Er respektiert den Schmerz der Angehörigen und Überlebenden. Er zeigt, dass Studentinnen und Studenten auf unterschiedlichste Art traumatisiert worden sind. Und er zeigt, dass der Täter Feministinnen umbringen wollte. Ein gutes Jahr vor dem Attentat besuchte ich Montreal als Teilnehmerin der Internationalen Feministischen Buchmesse. Sechstausend Bücherfrauen aus aller Welt füllten Strassen und Plätze der Stadt mit überschäumender Energie. In Kanada hatte die Frauenbewegung viel erreicht. 1980 wurde die gesetzliche Gleichberechtigung von Männern und Frauen eingeführt. Vergewaltigung in der Ehe wurde 1983 strafbar. 1988 wurde das Abtreibungsverbot ersatzlos gestrichen. «Le massacre du Polytechnique» traf Montreals Feministinnen ins Mark. Eine der Studentinnen beteuerte in Todesangst, sie sei sicher keine Feministin. Es hat sie nicht gerettet. In der kollektiven Erinnerung fand die feministische Analyse des Massakers nur schwer ihren Platz. Im 20. Jahr des Gedenkens könnte der Film dazu beitragen, die Diskussion endlich zu erweitern. Ich würde es mir wünschen.Die Autorin lebt als Schriftstellerin in Montreal. Sie tritt die Nachfolge von Isabelle Jacobi an. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Fremdschläfer» (Ammann-Verlag).
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch