Rätsel um Erdbeben in der TürkeiWarum es zweimal nacheinander gleich stark bebte
Geowissenschaftler sind erstaunt über den Ablauf der Erschütterungen. Nun prüfen sie, ob es im Falle eines Erdbebens auch in anderen Hochrisikogebieten zu einem starken Nachbeben kommen könnte.

Geowissenschaftler finden im Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien eine veränderte Landschaft vor: Gräben klaffen an manchen Stellen mehrere Hundert Meter breit und tief. Strassen wurden um mehrere Meter versetzt, weshalb das eine Ende nicht mehr zum anderen passen will. Aus aller Welt studieren Seismologen und Tektoniker das Erdbeben vom 6. Februar samt seinen Nachbeben. Sie sammeln Daten mithilfe von Seismometern und Satellitenmessungen, um aus der Tragödie zu lernen und für kommende Beben besser gewappnet zu sein, wie sie etwa vor Istanbul oder Los Angeles erwartet werden. «Die dramatischen Auswirkungen sind eine klare Warnung für weitere seismische Hochrisikogebiete in der Türkei und darüber hinaus», sagt Marco Bohnhoff vom Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam.
Keine zwei Wochen nach dem Beben hat ein Forscherteam aus der Türkei, Griechenland und den USA bereits eine erste Studie auf dem Preprint-Server EarthArXiv veröffentlicht, deren Begutachtung noch aussteht. Darin haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Hergang des Erdbebens rekonstruiert. Demnach hatte das erste grosse Beben der Magnitude 7,8 seinen Ursprung in einer Verwerfung, die bis dahin noch gar nicht kartiert worden war. Erst dann sprang es auf die ostanatolische Verwerfung über, die auf einer Länge von 350 Kilometern durchbrach.
Seismische Spannungen umgelagert
Auch scheint das Rätsel gelöst zu sein, wie es nicht einmal einen Tag nach dem Hauptbeben mit der Magnitude 7,8 zu einem mit Magnitude 7,6 fast genauso starken Beben weiter nördlich kommen konnte. Eigentlich ist zu erwarten, dass Nachbeben in ihrer Magnitude um etwa eine Grössenordnung abnehmen. Das zweite grosse Beben könnte ein separates Beben auf einer separaten Verwerfung gewesen sein. Dort habe sich die tektonische Energie bereits vorher angestaut, erklärt Bohnhoff. Berechnungen würden zeigen, dass das erste grosse Beben Spannungen umgelagert und damit den «seismischen Zyklus» der separaten Verwerfung beschleunigt habe. «Das zweite Beben wäre ohnehin aufgetreten», sagt der Geophysiker. «Nur später.»
Könnten solche Spannungsverlagerungen auch ein schweres Erdbeben nahe Istanbul lostreten, das Geowissenschaftler dort für die nahe Zukunft erwarten? «Erste Ergebnisse zeigen, dass die jüngsten Erdbeben nicht nah genug an der nordanatolischen Störung sind, um das Stressfeld dort massgeblich zu verändern», sagt die Geologin Derya Guerer von der Universität von Queensland in Brisbane.
Was lernen Wissenschaftler?
Trotzdem könnten gerade die verwinkelten Pfade der Erdbeben Lehren für andere Gefahrenzonen bereithalten. Denn egal ob Kahramanmaras, Istanbul oder San Francisco – alle liegen an vergleichbaren Verwerfungen. So prüfen US-Geologen, ob sich ein ähnlich starkes Erdbeben ebenfalls in einem der Seitenäste der San-Andreas-Verwerfung ereignen könnte, wie die «New York Times» berichtet.
Doch nur zu wissen, wo ein schweres Erdbeben in naher Zukunft lauert, hilft nichts. Bohnhoff sieht die zentrale Lektion für Istanbul und andere Millionenstädte in seismischen Hochrisikogebieten deshalb eher darin, möglichst schnell Häuser und Infrastruktur umzubauen und bei Neubauten die Bauvorschriften einzuhalten. Das sei eine zwar finanziell und logistisch extrem anspruchsvolle, aber unvermeidbare Aufgabe.
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