Viele Kurven für einen alten Zug
Mit viel Tradition und einigen erfrischenden Glanzlichtern startet das Jazzfestival in den Blues-Frühling: Eine All-Star-Formation hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck, aber die bestandenen Musiker sorgen auch für Versöhnung.
Ein Mann steigt in einen Zug, der ihn heim zu seiner Liebsten bringt. Er erinnert sich an die schönen Stunden, die er mit ihr schon verbracht hat. Und freut sich nun auf das Wiedersehen. 1963 hat der Sänger und Harmonikaspieler Sonny Boy Williamson diese Geschichte in einem Song erzählt. Fast ein halbes Jahrhundert später ist jetzt «Bring It on Home» erneut zu hören. Zum Auftakt des Jazzfestivals Bern schickt Billy Branch diesen Zug wieder auf die Reise. Der ganze Samstagabend ist wie eine Zugfahrt, mit immer neuen Passagieren. Und am Schluss, nach einigem Stocken und Holpern, erreicht der Zug mächtig und fein zugleich seine Bestimmung: die Essenz des Chicago Blues.
Shakura S'Aida als Lokomotive
Chicago Blues ist das Motto des Abends. Eine Band aus Cracks der Szene und zwei Gastmusikern lässt den Blues aus der Metropole aufleben. Den Anfang macht Bassist Russell Jackson, der zwei Songs, nur begleitet vom Pianisten und vom Schlagzeuger, zum Besten gibt. Mit Eddie Boyds uraltem Klassiker «24 Hours» gibt er die Richtung des Abends vor. Tradition wird hoch gehalten, die Band ist auf Retro-Kurs. Ursprünglich bleibt auch der Pianist Ken Saydak, als die Reihe an ihm ist, seinen Blues vorzustellen. Dann steigt der Gitarrist und Sänger Andrew «Jr. Boy» Jones zu. Sein Spiel ist eloquent und perlig. Aber er spricht die Chicago-Blues-Sprache der Band nur bedingt. Es schleichen sich Längen ein, der Funke will nicht springen. Und der Zug verliert an Fahrt.
Doch dann tritt Shakura S'Aida auf. Sie ist ein erst vor Kurzem aufgegangener Stern am Blues-Himmel. Und sie wird dem Ruf, der ihr vorauseilte, in Bern gerecht. Sie ist eine gewiefte Entertainerin und verfügt über eine bewegende Stimme. Und verblüfft viele, als sie plötzlich in breitestem Zürcher Dialekt parliert. Auch sie führt etliche alte Klassiker im Repertoire. Es gelingt ihr aber, unverstaubt und frisch zu wirken. Dennoch droht ihr Auftritt einen kurzen Moment in eine etwas gar aufgesetzte Show zu kippen. Sie hat es auch nicht leicht. Hinter ihr eine Band, die sich wie ein träger Güterzug bewegt, vor sich ein Publikum, das sich nicht rasch aus der Reserve locken lässt. Als würden die Gleise ins neblige Nichts führen. Doch Shakura S'Aida drängt wie eine Lokomotive vorwärts. Sie sorgt vor der Pause für einen versöhnlichen Schluss des ersten Sets.
Gemeinsame Sprache
Gitarrist Andrew «Jr. Boy» Jones ist Texaner, Russell Jackson und Shakura S'Aida leben in Kanada. Letztere hat auch einige Jahre in der Schweiz gelebt. Längst ist die Chicago-Blues-Szene nicht mehr so geschlossen, wie sie es einst war. Eine musikalische Öffnung hat den Blues nicht nur aufgefrischt, sondern auch die blinde Stilsicherheit der Musiker verwässert. Das ist auch in Bern spürbar. Doch den zweiten Teil des Abends bestreiten zwei Gäste der alten Garde.
Billy Branch, der begnadete Harmonikaspieler und Sänger, ist in Bern nicht unbekannt. Vor drei Jahren war er mit Kenny Neal in Marians Jazzroom. Und bei seinem Auftritt im National nimmt er das Heft in die Hand, steuert den Zug, bestimmt das Tempo. Und er muss gerade bei «Bring It on Home» dem ahnungslosen Gitarristen die etwas unüblichen, aber einfachen Harmoniewechsel anzeigen. So unvorbereitet zu spielen, gelingt nur, wenn alle die Chicago-Blues-Sprache verstehen und die Klassiker kennen. So wie der Schlagzeuger Willie Hayes, der genau spürt, welche Kurven und welche Stopps die Lokomotive Billy Branch fährt. Sichtlich einer, der weiss, was Chicago Blues ist.
So wie der letzte Mann, der die Bühne betritt. Linkshänder Eddy «The Chief» Clearwater ist schon optisch ein Farbpunkt, der das Geschehen auf der Bühne belebt. Er spielt fast ausschliesslich Songs seiner aktuellen CD «West Side Strut». Und lässt sich dabei, wie auf der CD, von Billy Branch begleiten. Ganz frisch wirkt der 74-Jährige nicht. Doch es gelingt ihm, den glanzvollen Schlusspunkt des Abends zu setzen. Mit dem Moll-Blues «Came up the Hard Way» und dem Instrumental «Sen-Sa-Shun» hat er den Zug endgültig auf Chicago-Blues-Kurs gebracht. Und dann hebt der Zug an diesem nicht zweifelsfreien Abend doch noch zu einem Höhenflug ab.
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