Musikbranche im UmbruchVerliert das Gurtenfestival seine Unabhängigkeit?
Der Programmverantwortliche des Gurtenfestivals arbeitet künftig für den Konzertmulti Live Nation. Was heisst das fürs Festival? Haben unabhängige Veranstalter keine Chance mehr?

Es ist eine kleine Mitteilung, welche grosse Fragen aufwirft: Andrej Malogajski, einer der Verantwortlichen für das Programm der Gurtenfestival-Hauptbühnen, wechselt zur Firma Mainland, welche ihrerseits dem Musikmulti Live Nation gehört. Um die Brisanz dieses Schritts zu verstehen, sei kurz umrissen, wie sich der Markt der Livemusik derzeit präsentiert.
Die beiden Grossfirmen Live Nation und CTS Eventim sind die weltweit führenden Musik- und Ticketvermarkter und teilen sich das Geschäft mit den grossen Stars quasi in einem Duopol auf.
Dementsprechend gross war der Aufschrei, als es letztes Jahr zum grossen Zusammenschluss von CTS Eventim mit den Veranstaltern des Open Airs St. Gallen, der Agenturen Wild Pony (des ehemaligen «Mr. Gurten» Philippe Cornu), Gadget und André Béchirs ABC kam.
Beim Gurtenfestival gab man sich damals «befremdet» über den Zusammenschluss. Die grösste Angst sei es, so der damalige Co-Leiter Simon Haldemann, dass man als unabhängiger Veranstalter im Wettbewerb um die interessanten Bands schleichend in die zweite Reihe abrutschen könnte. Womöglich ist dies schneller geschehen als befürchtet.
Live Nation ist in der Schweiz am Open Air Frauenfeld beteiligt, und gilt weltweit als Branchenführer. In den USA verdient Live Nation mittlerweile an 80 Prozent aller verkaufter Tickets für Musikveranstaltungen mit. Es sei das erklärte Ziel von Live Nation und CTS Eventim, den Livemarkt weltweit zu beherrschen, hat der Autor und Konzertagent Berthold Seliger kürzlich im «Bund» über diese Zuspitzung im Livebereich erklärt: «Sie binden Künstler an ihre Konzertagenturen, kaufen weltweit Clubs, Festivals und lokale Veranstalter auf, um ihre Acts möglichst in der eigenen Wertschöpfungskette zu platzieren.» Seine Prognose: «Die Festivals in den Grossstädten werden mittelfristig nur noch von CTS Eventim und Live Nation durchgeführt werden.»
Andrej Malogajski, das Gurtenfestival gehörte zu den letzten grossen unabhängigen Festivalveranstaltern der Deutschschweiz…
…um das vorwegzunehmen: Das ist auch nach wie vor so. Aber ich weiss, worauf Ihre Frage abzielt. Ich programmiere als einer von drei gleichberechtigten Bookern in einem Mandatsverhältnis seit 2019 grössere Bands ans Gurtenfestival. Mein Fokus liegt zwar vor allem auf den grösseren Acts. Das Besondere an unserer Arbeitsweise ist aber der Austausch dreier meinungsstarker Musikfans. Daran und an der Firmenstruktur der Gurtenfestival AG ändert sich nichts, ausser dass mein Arbeitgeber ein anderer ist.
Ihr Arbeitgeber wird künftig Live Nation sein. Da klingeln bei vielen die Alarmglocken. Wird das Gurtenfestival mittelfristig zum strategischen Ableger des Konzertmultis werden?
Mein künftiger Arbeitgeber ist Mainland Music, ursprünglich selbst eine Indie-Agentur, die 2019 von Live Nation übernommen wurde. Dass das Festival zum strategischen Ableger wird, könnte ich überhaupt nicht mit meinem Verständnis des Anlasses vereinbaren.
Wie beschreiben Sie dieses Verständnis?
Ich kam bereits als kleines Kind mit meinen Eltern ans Gurtenfestival, hab als jugendlicher Fan viele meiner Idole dort oben das erste Mal gesehen und mein Taschengeld als Trashhero, Bühnengraben-Security oder in der Infra-Crew verdient. Ich habe meinen Veranstalterursprung in der Reitschule und pflege nach wie vor ein sehr gutes Verhältnis zur alternativen und lokalen Musikszene. Entsprechend könnte ich es nie mit mir vereinbaren, dass eine so wichtige kulturelle Instanz wie der Gurten zu einer strategischen Spielbühne einer grossen Agentur verkommt.
Die Strategie von Live Nation ist doch ziemlich durchsichtig: Es geht nicht nur darum, weltweit im Livemarkt mitzumischen, sondern mittelfristig überall Branchenführer zu sein.
Wenn dem so wäre, hätten sie kaum eine in der Schweiz tätige Indie-Agentur wie Mainland übernommen, sondern würden als Konzern nur vom Ausland aus agieren und diktieren.
«Die Zusammenarbeit mit Live Nation wird dem Gurten ermöglichen, in diesem Business mithalten zu können.»
Sie sind also überzeugt, dass sich der Wechsel auch längerfristig nicht auf das Gurtenfestival auswirkt?
Ja. Es ist ja quasi ein Kunde von mir. Wenn die Verantwortlichen des Festivals mit meiner Arbeit nicht zufrieden sind oder das Gefühl haben, ich vertrete als Festivalbooker nicht mehr zuerst die Interessen des Festivals, sondern die der Bookingagentur, dann werde ich dieses Mandat völlig zu Recht verlieren.
Das Geschäft um diese grösseren Namen wird immer härter. Sind Sie mit Live Nation in einer besseren Position?
Ja. Bei Live Nation werden sich mir andere Möglichkeiten eröffnen als bisher. Ich kann auf ein riesiges Netzwerk zurückgreifen, ich kann mich betreffend der Offerten an Bands absprechen, und ich kann von einem enormen Wissen profitieren. Die Zusammenarbeit mit Live Nation mit mir als Mandatsträger im Booking wird dem Gurten ermöglichen, in diesem Business mithalten zu können.
Wer den Begriff Absprache hört, denkt sofort an ein Kartell.
Gewisse Absprachen machen auch kleinere Festivals. Es geht da vor allem um einen Informationsaustausch, wer wann wo tourt. Was in der Branche oft beklagt wird, sind die Exzesse bei den Gagenforderungen der Bands, was auch die Ticketpreise in die Höhe schnellen lässt. Durch einen regelmässigen Austausch, auch mit unabhängigen Festivals, kann man dem teils etwas entgegenhalten.
«Es gab Zeiten, da war der Markt für Grosskonzerte in der Schweiz fast ausschliesslich in den Händen von André Béchir und dessen Firma Good News.»
Das klingt jetzt, als wären die Multis die Heilsbringer der Livebranche. Tatsache ist: Es sind börsenkotierte Firmen, die das Maximum an Profit anstreben. Dazu gehört, den Bands die Gagen zu deckeln, mit massiven Gebühren im Ticketing viel Geld für wenig Aufwand zu verdienen und Künstler an ihre Agenturen und Festivals zu binden.
Ich kenne die Klischees über die Multis sehr gut, möchte aber zu bedenken geben, dass die Situation zuvor ja nicht viel anders war. Es gab Zeiten, da war der Markt für Grosskonzerte in der Schweiz fast ausschliesslich in den Händen von André Béchir und dessen Firma Good News. Es wird immer grosse Firmen geben, die für eine gewisse Zeit den Markt dominieren. Doch die Szene ist im ständigen Wandel. Was heute gilt, kann morgen ganz anders aussehen. Und was die Exklusivität der Bands betrifft: Das findet keine Entsprechung in der Realität. Ich hatte noch nie das Problem, als unabhängiger Veranstalter eine Band für ein Festival nicht zu bekommen, einzig weil sie bei Live Nation oder bei CTS Eventim unter Vertrag ist.
Aber Sie haben womöglich mehr dafür bezahlt. Cardi B hat 2019 in Frauenfeld mit 900’000 Dollar die grösste Gage ihrer Europatournee eingesackt. Ein Festival, das Sie – als Mitinhaber der kleinen Thuner Agentur Pleasure Productions – mitprogrammiert haben.
Gagen-Gerüchte von Acts, die im Internet kursieren, kann ich nicht kommentieren. Was ich aber sagen kann: Der erwähnte Act wurde damals nicht von unserer Agentur in Thun gebucht, was gegen Ihre Theorie spricht.

Kritiker des Duopols sprechen von einem schleichenden Prozess und prophezeien, dass längerfristig niemand um diese Firmen herumkommt und dass in zehn Jahren jedes grosse Festival in deren Händen sein wird.
Ich bin überzeugt, dass es immer grosse unabhängige Festivals geben wird. Und Prognosen über zehn Jahre sind in dieser Branche sehr gewagt. Die Kunst eines Bookers ist es doch, für jedes Festival ein eigenes Profil zu finden, das sich über die Jahre beim Publikum etabliert und auch die lokalen Besonderheiten berücksichtigt. Das wird kaum möglich sein, wenn man nur Bands aus einer einzelnen Agentur bucht.
Und doch ist Ihr Wechsel zu Live Nation als Statement zu verstehen, dass man als unabhängiger Veranstalter im Geschäft um die Grossen schon jetzt kaum mehr Chancen hat.
In der Tendenz mag das für grosse Festivals stimmen. Meine Haupttätigkeit liegt ja aber genau da, und somit ist es für mich aus beruflicher Sicht, also als Festivalbooker, unumgänglich, mich innerhalb dieser globalen Entwicklung zu bewegen. Den Unterbau der Musikindustrie tangiert das nicht. Die Subkultur lebt. Eine Bad Bonn Kilbi, ein ISC oder die Reitschule betrifft diese Entwicklung kaum. Lokale Phänomene entstehen weiterhin, und es ist in meinem Verständnis als Veranstalter wichtig, diese genauso abzubilden. Ein Festival besteht nicht nur aus Headlinern.
«Ich könnte mir vorstellen, dass sich kleinere bis mittlere Festivals künftig anders ausrichten und sich weniger auf die internationalen Stars konzentrieren.»
Sie fürchten nicht um die Vielfalt der Szene?
Nein. Ich könnte mir vorstellen, dass sich kleinere bis mittlere Festivals künftig anders ausrichten und sich weniger auf die internationalen Stars konzentrieren, sondern ein bestimmtes Konzept mit entsprechendem Zielpublikum verfolgen. Das ist teils ja schon geschehen. Dass es im oberen Segment zu einer Zuspitzung kommt, ist längst Tatsache. Ein Major-Festival ist auf die grossen Namen angewiesen. Das ist ein Kampf, und das wird es auch künftig sein. Wenn der Manager einer Band ein grösseres Festival dem Gurten vorzieht oder wir finanziell nicht mithalten können, dann werden mir auch meine Beziehungen zu Live Nation nichts nützen.
Momentan überschlagen sich die Meldungen von grossen Konzertagenturen, die fusionieren. Soeben hat FKP Scorpio, welche CTS Eventim gehört und das Greenfield Festival in Interlaken programmiert, wieder eine grosse Agentur einverleibt. Was geschieht da gerade im Livemusik-Business?
Es gibt diese Fusionen, aber es gibt eben auch immer wieder neue Agenturen, die aus dem Boden schiessen. So hat sich der Agent von Ed Sheeran von einer der grössten Agenturen abgenabelt und eine eigene Firma gegründet.
Hat diese Unruhe mit der Pandemie zu tun?
Ich denke schon. Nach einem Jahr Stillstand sind viele ins Grübeln geraten und haben über die Zukunft nachgedacht, über neue Partnerschaften, und vielleicht auch über die Chancen und Bürden der Selbstständigkeit. Dinge, für die man im normalen Tagesgeschäft kaum Zeit findet. Und doch kenne ich keinen Veranstalter, der wegen der Krise Konkurs anmelden musste. Die Rettungsschirme scheinen zumindest in Europa – Stand heute – im Grossen und Ganzen funktioniert zu haben.
Zurück nach Bern. Wagen Sie eine Prognose: Wie wird das Gurtenfestival in fünf Jahren aussehen?
Ich denke, am Gurten 2026 spielen vier weibliche Headliner, auch weil wir keine genug grossen männlichen Bands finden konnten. Die Bands kompensieren ihren CO₂-Ausstoss für die Tournee direkt mit einem Gagenabzug, und bei den meist veganen Essständen zahlen die Besucherinnen und Besucher ausschliesslich mit Kryptowährungen. 20’000 Menschen tanzen und singen vor der Hauptbühne, 10’000 machen dasselbe von zu Hause via Virtual-Reality-Brille.
Könnte es sein, dass Sie gerade eher über das Jahr 2036 fantasieren?
Gut möglich. Ich hoffe jedenfalls, dass wir 2026 alles tun können, was wir letzten und diesen Sommer nicht können: dicht an dicht gute Musik hören, Konzerte schauen, mitsingen, tanzen und ausgelassen feiern.
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