Unterdrückung der Libido
Religiöse Gruppen kommen selten zurecht mit der menschlichen Sexualität. Unterdrückung kann jedoch zu einer kaum mehr kontrollierbaren Kraft werden.
Die Buchreligionen tun sich schwer mit der Sexualität. Aber auch viele Strömungen im Hinduismus und Buddhismus haben ihre liebe Mühe mit der Geschlechtlichkeit. Und auch Sekten kommen selten zurecht mit der Libido.
Die Domäne der grossen Religionen ist der Glaube. Der Glaube ist wohl die stärkste geistige Kraft, weil es um Sehnsucht, Angst und Hoffnung geht. Auf der körperlichen Seite sind es die Triebe, allen voran die Sexualität.
Es scheint, dass dogmatische und fundamentalistische Glaubensgemeinschaften schlecht zurecht kommen mit dieser menschlichen Kraft. Der Grund: Die Sexualität scheint oft in Konkurrenz zum Glauben zu stehen. Die Gemeinschaften können die religiöse Energie der Gläubigen wecken und in Bahnen lenken. Sie können das ethisch-moralische Empfinden sensibilisieren. Sie können die Gläubigen in ihren Bann ziehen. Doch bei der stärksten körperlichen Kraft stehen sie weitgehend auf verlorenem Posten. Das scheint ihnen nicht in den Kram zu passen. Und deshalb erklären fundamentalistische Glaubensgemeinschaften die Sexualität als Sünde, wenn sie nicht der Fortpflanzung dient.
Das ist widersprüchlich. Christen glauben, dass Gott uns einen wunderbaren Körper geschenkt hat. Mit allem was dazu gehört. Also auch mit Trieben und Gefühlen, die in doppeltem Sinn dem Überleben dienen. Die dogmatischen Gemeinschaften wollen die Libido domestizieren. Sie erheben sogar unter Androhung von Sanktionen (Sünde!) das Gewaltmonopol.
Damit stürzen sie viele Gläubige in ein Dilemma. Ja, sie verlangen Unmenschliches. Und selbst die Geistlichen, welche die fragwürdigen moralischen Normen fordern, können sie selbst nicht erfüllen. Viele katholische Geistliche suchen die Dienste von Prostituierten, pflegen heimliche Beziehungen und haben uneheliche Kinder. Auch bei den Freikirchen tun sich viele Geistliche und Gläubige schwer mit der Sexualität.
Ich werde immer wieder mit Fällen konfrontiert, bei denen strenggläubige Christen Kinder – teilweise ihre eigenen – missbrauchen. Unterdrückte Sexualität kann zu einer unheimlichen und kaum mehr kontrollierbaren Kraft werden. Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen können die Folge sein.
Die Unterdrückung der Libido ist ein Akt gegen die Natur. Wenn moralische Normen ins Spiel kommen, wird es explosiv. Das wissen die Geistlichen aus eigener Erfahrung. Trotzdem kämpfen sie weiterhin gegen diese „Kraft Gottes“.
Es wäre viel sinnvoller, zu lernen, eine verantwortungsvolle Sexualität zu leben. Dadurch kann viel Leid verhindert werden.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass es bei der Forderung nach der Unterdrückung der Libido um ein Herrschaftsinstrument geht. Menschen, die eine erfüllte Sexualität kennen, erleben ein Gefühl der Selbstbestimmung und Freiheit. Sie lassen sich schlecht in strenge Glaubensgemeinschaften einbinden.
Dieser Artikel wurde erstmals am 29. Juni 2007 publiziert und am 24. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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