Traktandum Autonomie
Die Berner Reitschule hat am Freitagabend ihre Tore für den Stadtrat geöffnet. Nur 15 Ratsmitglieder liessen sich durch die Räume des autonomen Kulturzentrums führen.
Da ist die Grosse Halle, die erste Station auf der Informationstour. Die Blinde Insel hat hier ihr Zelt aufgestellt. Bald werden sich im Dunkelraum Gäste durch Blinde bedienen lassen. Nun lassen sich Sehende von Sprechenden führen: 15 Mitglieder des Stadtrats schauen sich die Kulturräume an und hören dazu die Erklärungen der jeweiligen Betriebsgruppe. Ausser FDP, Grüne Freie Liste (GFL) und Grünliberale sind alle Parteien vertreten.
Vor Monatsfrist hatten die Volksvertreter konstatiert, die Reitschule habe ein Gewalt- und Drogenproblem und sei daher einer straffen Geschäftsleitung zu unterstellen. Erik Mozsa (gfl), der im Förderverein des Kulturzentrums tätig war, hatte den Vorstoss eingebracht. Heute ist er abwesend. Nicht an der Führung dabei ist auch SVP-Stadtrat Erich J. Hess: Er fordert die Schliessung und den Verkauf der Reitschule; die entsprechende Volksinitiative wurde kürzlich bei der Stadt eingereicht.
Da sind die Theaterräume des Tojo: «Bitte verteilt euch auf die Sitzplätze, damit Theaterstimmung aufkommt», sagt Kollektiv-Mitglied Michael Röhrenbach in klassischem Bühnendeutsch. Die Legislative gehorcht. Der Produzent und Schauspieler spielt den perfekten CEO: Mit hundert Vorstellungen pro Jahr erwirtschafte das Theaterkollektiv einen Umsatz von rund 110000 Franken. Heute habe das Tojo nationale Bedeutung; der Barmann verdient gleich viel wie der Schauspieler. Und: «Wir arbeiten zum Einheitsstundenlohn von 25 Franken», ergänzt Röhrenbach. Die kollektive Struktur habe sich bewährt, und «wir wollen sie beibehalten». Da meldet sich GB-Ko-Fraktionschef Hasim Sancar zu Wort: «Im Stadtrat arbeiten wir auch zu einem Einheitslohn.» Gelächter.
Der Kulturbetrieb sei ja hier nicht das Problem, sagt Jimy Hofer, der mit der Bronco-Lederjacke seine Interessenbindung offenlegt. Wenn die Stadtbehörde als Eigentümerin mit Leuten ohne Kompetenzen verhandeln müsse, «dann kann sie ebenso gut an eine Wand reden». Mit einem Kollektiv mit ständig wechselnden Akteuren zu verhandeln, sei «frustrierende Sisyphus-Arbeit», so Hofer. Die Reitschule spreche nicht mit einer Stimme und sei zerstritten, kritisierte er. Auch der Stadtrat sei oft uneins, entgegnete Ruedi Keller, SP-Stadtrat und Mitglied des Fördervereins. «Der Dialog zwischen Reitschule und Stadt funktionierte lange sehr gut.» Heute Montag findet wieder ein Gespräch statt, neu unter der Leitung von Statthalterin Regula Mader.
Da ist die Werkstatt, Wirkungsfeld des Beat Stähli vom Bakikur-Baukollektiv. Beim Umbau sei in Freiwilligenarbeit das historische Gebäude vor dem Zerfall gerettet worden, berichtet Stähli. Vom Kredit für die Gesamtsanierung sei ein grosser Teil dem hiesigen Gewerbe zugutegekommen. «Das ist indirekte Wirtschaftsförderung.» Stähli amtet in der Reitschule als «Burgwart» und hat mit dem elektronischen Passepartout Zugang zu allen Räumlichkeiten – gegen 100 an der Zahl. Insgesamt sind fast 500 elektronische Schlüssel im Umlauf.
Da ist der Frauenraum, entstanden aus der Forderung nach Gleichstellung. Heute dürfen auch Männer die Veranstaltungen besuchen. Nur die Frauendisco bleibt dem Mann verschlossen. Und da ist der Infoladen, das Hirn der Reitschule. Eine Hinweistafel aus dem Strassenverkehr hängt an der Wand: «Links gehen – Gefahr sehen.» Hier befinden sich Archive über politische Bewegungen von Antifaschismus bis Zapatismus. In der Offset- und Siebdruckerei erhalten die Botschaften Farbe und Gestalt. «Wir arbeiten zu prekären Bedingungen, aber wir sind mit Herzblut dabei», sagt David Böhner, der demnächst seine Druckerausbildung an der Schule für Gestaltung abschliesst und Mitglied der Mediengruppe ist.
SVP-Stadtrat Peter Wasserfallen, Sohn des verstorbenen Polizeidirektors, kennt die Reitschule vom Familientisch. Er kann sich mit ihr nicht anfreunden, sei doch der Betrieb aus einer illegalen Besetzung entstanden. Da ist der Dachstock, Endstation des Abends. Der Apéro riche ist aufgedeckt. Der neue Direktor für Sicherheit, Umwelt und Energie, Reto Nause (cvp), gehört zu den Letzten, die den Betrieb verlassen. Die Mediengruppe zieht am nächsten Tag Bilanz: «Es war ein rundum gelungener Anlass.»
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