Suche nach einem verschwundenen Land
Knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer haben auf der Leipziger Buchmesse Schriftsteller, Historiker und Zeitzeugen auf die Ereignisse von 1989/90 zurückgeblickt.
Es fehlt nur der DDR-typische Putzmittelgeruch. Immerhin sind die orange-braunen Stühle und die riesigen Kronleuchter erhalten und geben dem Kinosaal der ehemaligen Leipziger Bezirksverwaltung der Staatssicherheit eine authentische DDR-Aura. Ausgerechnet in diesem einstigen Stasi-Kinosaal tritt im Rahmen der Leipziger Buchmesse Stephan Krawczyk auf. Der Liedermacher war eine Symbolfigur des friedlichen Widerstands in der DDR: 1988 machte er auch in der Schweiz Schlagzeilen, als er zusammen mit seiner damaligen Frau Freya Klier inhaftiert wurde und anschliessend in den Westen emigrieren musste. «Man darf nicht zum Veteranen seiner schrecklichen Zeit werden», sagt Krawczyk und wird doch genau das. Sein Vortrags- und Konzertauftritt ist die fast tragisch anmutende Selbstdarstellung eines Menschen, dem mit dem Verschwinden der DDR offenbar der Boden unter den Füssen weggezogen wurde und der in der neuen Gesellschaft hauptsächlich Konsumterror und Waffenwahn erkennt.Ostdeutsche SelbstreflexionWas war das für ein Staat, diese DDR? Und was passierte vor zwanzig Jahren, als sich Europa in einer nie für möglich gehaltenen Weise wandelte? Dass diese Fragen gerade auf der Leipziger Buchmesse bei zahlreichen Lesungen und Diskussionen verhandelt wurden, ist nur konsequent. Die Messe hat sich als Ort ostdeutscher Selbstreflexion profiliert, und die Stadt Leipzig selbst steht für den Zwiespalt der Nachwendeentwicklung: einerseits verfallende Industriegebäude und halbleere Wohnhäuser an der Peripherie, andererseits eine perfekt sanierte Innenstadt mit bis auf den letzten Platz gefüllten edlen Restaurants. Apropos Wende: Nein, es war eine Revolution, sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, als er sein Sachbuch «Endspiel» vorstellt. Er spricht von der «Selbstbefreiung von Menschen, die ihre Ängste überwanden und ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen». Und er wundert sich, dass mit der Zeit die Gruppe der Oppositionellen in der DDR nachträglich immer grösser, die der Unterstützer des Regimes immer kleiner geworden ist.Der Pfarrer und HoneckerEin Akteur der damaligen Zeit war der heute 80-jährige evangelische Pfarrer Uwe Holmer. Der berichtet – graues Jackett, die Haare streng zurückgekämmt – in selbstverständlichstem Tonfall, wie es war, dem Ehepaar Honecker Asyl anzubieten. Der SED-Chef fand Ende Januar 1990 nach einer Operation im Haushalt des Theologen nördlich von Berlin Zuflucht, weil nirgendwo sonst seine Sicherheit gewährleistet schien. Wie gestaltete sich denn die Ankunft Honeckers? «Wir haben miteinander Abendbrot gegessen, und ich sprach das Tischgebet.» «Rechthaber» GrassGeradezu kabarettistisches Potenzial entlockt dem Zusammenbruch des Ostblocks der ungarische Schriftsteller György Dalos («1989 – Der Vorhang geht auf»), wenn er einen absurden Dialog über die Verzollmodalitäten von Pornovideos wiedergibt. «Die ungarischen Kommunisten», resümiert Dalos, «wollten die Macht mit einigem Gewinn verlieren.» Sehr viel weniger locker nimmt es Günter Grass. Der Nobelpreisträger sitzt, umringt von einer vielhundertköpfigen Menschenmenge, auf dem blauen Sofa in der Glashalle der Messe und sagt das, was man nun in seinem Tagebuch von 1990 nachlesen kann: dass im Vereinigungsprozess «Bedingungen von Kolonialherren» diktiert worden seien und der Umtausch von DDR-Mark in D-Mark «reiner Wählerkauf» gewesen sei. Und im übrigen, doziert Grass, fing die Finanzkrise auch keineswegs mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers an, sondern mit der Verschuldung im Zuge der Wiedervereinigung.Man bringt in diesem Augenblick ein gewisses Verständnis auf für Sibylle Lewitscharoff, die mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Autorin des Romans «Apostoloff», die Grass wie auch Martin Walser als «Rechthaber» attackiert, als «heruntergeschriebene Schriftsteller, die ich auch politisch grauenhaft finde». Ebenfalls grauenhaft findet Lewitscharoff Bulgarien, das Land ihres Vaters und Thema ihres preisgekrönten Romans: Um an der bulgarischen Schwarzmeerküste Ferien zu machen, «muss man Masochist sein», und in den Reiseführern über Bulgarien «wird gelogen, dass sich die Balken biegen».Paradoxe VorurteileDass diese alle Vorurteile bestätigenden Äusserungen gerade in Leipzig fallen, ist paradox. Denn seit den Neunzigerjahren liegt ein Schwerpunkt der Buchmesse gerade darin, zu beweisen, dass die ost- und mitteleuropäischen Staaten eben nicht auf Korruption und bettelnde Roma-Kinder zu reduzieren sind, sondern spannende literarische Begegnungen ermöglichen.Zum Beispiel die mit dem jungen slowakischen Romancier Michal Hvorecky. In einem von bitterer Ironie getränkten Essay schildert er die Auswirkungen des russisch-ukrainischen Gasstreits auf die komplett von russischen Erdgaslieferungen abhängige Slowakei und hält dabei ein Plädoyer für die europäische Integration. Hvorecky, 1989 erst 13 Jahre alt, scheint die Tragweite des vor zwanzig Jahren erfolgten Umbruchs klarer als viele andere begriffen zu haben: «Für das, was ich mache», sagt er, «hat man vor fünfzig Jahren in der Tschechoslowakei Autoren verhaftet und erschossen.»>
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