Stiefkind Verfassungsgericht
Das Bundesgericht muss heute Gesetze anwenden, auch wenn sie gegen die Verfassung verstossen. Ein weiterer Versuch, das zu ändern, stösst bei den bürgerlichen Parteien auf Widerstand.

Den jüngsten Anlauf, dem Bundesgericht Kompetenzen in Richtung eines Verfassungsgerichts zu geben, hat die Rechtskommission des Nationalrats im Januar lanciert. Aufgrund zweier parlamentarischer Initiativen schickte sie eine Vorlage in die Vernehmlassung, die den Artikel 190 aus der Verfassung streichen will. Die Vernehmlassungsfrist läuft morgen ab.
Der Artikel besagt, dass Bundesgesetze und Völkerrecht für Bundesgerichte und Behörden bindend seien. Im Gegensatz zu Ländern wie beispielsweise Deutschland gibt es in der Schweiz deshalb kein Gericht, das Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit prüft.
Von den grossen politischen Parteien stellen sich nun lediglich die SP und die Grünen hinter das Anliegen. Die Verfassung stehe über den Gesetzen, hält die SP fest. Sie werde aber abgewertet, wenn sie Bundesgesetze zwar auf ihre Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht, aber nicht mit der Verfassung prüfen könne. Für die Grünen würde durch eine Änderung der Schutz der Grund- und Menschenrechte gestärkt.
Auswirkung auf Gewaltenteilung
Skepsis herrscht dagegen bei den Bürgerlichen: Die FDP befürchtet, dass sich die Änderung auf die Rollen der Gewalten im Staat auswirken würde: Gerichte müssten sich zu Entscheiden des Parlaments oder sogar Volksabstimmungen äussern. Die Volksrechte würden dadurch geschwächt, hält die FDP fest.
Für die FDP ist es allerdings legitim, die Frage nach einer juristischen Kontrolle zu diskutieren - immer mehr regle der Bund, wofür früher die Kantone zuständig waren. Damit entzögen sich immer mehr Gesetze der Verfassungskontrolle durch das Bundesgericht. Über die Folgen einer Änderung verlangt die FDP aber zuerst einen Bericht vom Bundesrat.
Fundamentalopposition der SVP
Die SVP sieht ebenfalls die Volksrechte in Gefahr, wenn in der Schweiz eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt würde, wie Alt-Bundesrat Christoph Blocher am Donnerstag vor den Medien in Bern festhielt. Richter könnten so «über die Köpfe des Parlaments und der Bevölkerung» entscheiden.
In der Schweiz sei das Volk Gesetzgeber, sagte SVP-Nationalrat Pirmin Schwander (SZ). Deshalb brauche es kein neues Gericht, das die «Oberaufsicht über das Volk und Parlament» habe. «Das würde die Gewaltenteilung verwässern.» Die allgemeinen Begriffe in der Verfassung müsse das Parlament in Gesetzen konkretisieren; nicht das Bundesgericht sei für diese Auslegung zuständig.
Wenn schon etwas ändern, dann will die SVP den Bezug zum Völkerrecht im Artikel 190 entfernen. Völkerrecht dürfe dem Landesrecht nicht übergeordnet werden, bekräftigte Blocher die bekannte SVP-Forderung. Zwingende Normen wie das Genozid- oder Folterverbot würden auch nach der Schweizer Verfassung eingehalten.
CVP für Kompromiss
Die CVP favorisiert einen Mittelweg: An der Priorität der Bundesgesetze vor der Verfassung will sie nicht rütteln. Sie unterstützt aber einen Minderheitsantrag der Kommission. Demnach müssten Behörden Bundesgesetze nicht anwenden, wenn sie ein Grundrecht der Bundesverfassung oder ein vom Völkerrecht garantiertes Menschenrecht verletzen.
SVP-Nationalrat Schwander kritisierte vor den Medien die Haltung der FDP und CVP: Die Vertreter der beiden Parteien hätten in der Kommission noch die Streichung des Artikels unterstützt. Schwander wirft ihnen nun vor, ihre Meinung wegen der Wahlen im Herbst geändert zu haben.
Der Artikel 190 sorgt schon seit Jahrzehnten für Diskussionsstoff. Eine Streichung war bereits bei der Justizreform im Nachgang der Revision der Bundesverfassung Ende der 90er-Jahre ein Thema. Geschaffen wurde der Artikel Ende des 19. Jahrhunderts.
SDA/rub
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