«Wilde» Klassik mit der Camerata Bern«So etwas kann man nur schreiben, wenn man high ist»
Benjamin Brittens Lieder über halluzinatorische Texte von Rimbaud seien ihre Rettung in der Pandemie gewesen, erzählt die Sopranistin Anna Prohaska.

«J’ai seul la clef de cette parade sauvage» – «Ich allein besitze den Schlüssel zu dieser wilden Parade»: Mit diesen Worten endet das Gedicht «Parade» von Arthur Rimbaud (1854–1891). Die Passage kann sinnbildlich gelesen werden für Rimbauds gesamtes Œuvre – die Gedankenwelten des einflussreichen Lyrikers mündeten in weitgehend sinnfreien Wortmalereien und Traumvisionen. Rimbauds Werk war von grosser Bedeutung für den Anbruch der Moderne in der französischen Literatur und den Künsten – nach ihm kamen der Symbolismus, der Surrealismus, der Expressionismus.
«J’ai seul la clef de cette parade sauvage»: Mit denselben Worten beginnt auch der Liederzyklus von Benjamin Britten. Der englische Komponist (1913–1976) nahm die «Parade» sowie weitere Gedichte aus Rimbauds Sammlung «Les Illuminations» und schrieb daraus zehn Lieder für Sopran und Streichorchester.
Im Zyklus komponierte der 27-jährige Britten ein musikalisches Kaleidoskop über Rimbauds Klangmalerei, das von gläsernen Streicherklängen bis zu erratischen Ausbrüchen der Gesangsstimme eine schier grenzenlose musikalische Vielfalt auffächert.
«Ein optimales Social-Distancing-Werk»
«Sauvage»: Mit diesem einzelnen Schlagwort aus Rimbauds Text benennt die Camerata Bern schliesslich ihr Konzertprogramm, das sie gemeinsam mit der Sopranistin Anna Prohaska konzipiert hat. Es ist die zweite programmatische Zusammenarbeit der österreichisch-englischen Sopranistin und dem Berner Ensemble. Prohaska erzählt von ihrer Faszination für Rimbauds Sprache als Ausgangspunkt für die Programmidee: «Diese Visionen – so etwas kann man nur schreiben, wenn man high ist.» Rimbauds Drogenkonsum ist biografisch belegt, inwiefern «Les Illuminations» unter direktem Einfluss von Rauschmitteln entstanden ist, kann hingegen nicht rückverfolgt werden. Besonders hängen geblieben sei ihr das Wort «Sauvage», so Prohaska weiter, «und ausgehend davon machte ich mich auf die Suche, wie man das Wilde in verschiedenen musikalischen Epochen dargestellt hat».
Gesetzt war von Anfang an Brittens Liederzyklus. Dies, weil das Werk für Prohaska in naher Vergangenheit eine besondere Bedeutung gewonnen hat: «Britten hat mich durch die Covid-Zeit gerettet: Es war das optimale Social-Distancing-Werk, ohne Blasinstrumente, nur mit Streicherinnen und Streichern und einer Sängerin, die sich möglichst weit weg stellen konnte.» Prohaska tourte mit «Les Illuminations» international, in einer Zeit, in der viel anderes nicht möglich war.
Brittens Liederzyklus stellen Prohaska und die Camerata Bern einen Reigen von barocken Arien gegenüber. Die Sopranistin bringt aus ihrer Recherche einen wesentlichen Aspekt auf den Punkt: In der Barockzeit waren die «Wilden» schlicht alle Völker, die nicht weiss und im kolonialistischen Sinn mächtig waren.
Mit dem Konzeptprogramm ist nicht zu befürchten, dass die derzeit hitzigen Diskussionen über kolonialistisches Gedankengut hochkochen.
Aus heutiger Sicht mögen einem ob dieser eurozentristischen Sicht die Haare zu Berge stehen – so widmet sich beispielsweise Jean-Philippe Rameau in seiner Oper «Les Indes Galantes» (1735), aus der die Sopranistin zwei Arien singen wird, jeweils einen ganzen Akt einem dieser «wilden» Völker: Türken, Inkas, Perser, Indianer. «Gleichzeitig war der Begriff der ‹Wilden› auch ehrenhaft konnotiert», sagt sie. «Der Verzicht des noblen Wilden auf Widerstand in der Kolonialisierung galt als erstrebenswerte Tugend.»
Mit dem Konzeptprogramm ist nicht zu befürchten, dass die derzeit hitzigen Diskussionen über kolonialistisches Gedankengut hochkochen. Denn diese Herangehensweise an den Begriff «Sauvage» ermöglicht eine neue Einbettung von Werken, an deren ursprüngliche Form man sich aus Angst davor, sich die Finger zu verbrennen, gerade nur ungern wagt.
Neue Tonarten, neue Suiten
Im ersten Teil des Konzerts erklingen zwölf Stücke von Rameau, darunter Arien und Instrumentalwerke, herausgesucht aus sieben verschiedenen Opern. Hinzu kommen sieben Einzelsätze aus dem Œuvre von Henry Purcell. Damit das Ganze letztlich nicht allzu wild zusammengewürfelt tönt, wurden die Arien musikalisch und thematisch sinnvoll zu einer Art Suite neu zusammengesetzt. Das bedeutet auch, dass die Stimmung der Instrumente vom barocken Standard auf die heute gängigen 442Hz. festgelegt und Tonarten angepasst wurden. «Wir nehmen das Publikum an der Hand», sagt Prohaska.
Und was war das Wildeste, was Anna Prohaska in ihrem Leben gemacht hat? Die Sopranistin überlegt und erzählt dann – im ersten Moment überraschenderweise – von der Hochzeit ihres Bruders: «Ich stieg nach einem Auftritt in Salzburg in mein Auto, bretterte vier Stunden auf der Autobahn durch halb Österreich, erreichte die Hochzeitsparty um Mitternacht, tanzte dort bis am Morgen, reiste weiter zum Flughafen Wien, schlief eine Stunde und flog dann direkt nach Hannover fürs nächste Konzert.»
Wäre Prohaska Pop- oder Rocksängerin – man würde müde lächeln. Für eine Sopranistin ihres Rangs jedoch kann man das durchaus als abenteuerliche Episode würdigen. Und was daraus (nicht nur) bei Prohaska am meisten nachhallt: «Meine Stimme klang erstaunlicherweise überhaupt nicht, als hätte ich nur eine Stunde geschlafen.»
Französische Kirche Bern, Sonntag, 7. Mai, 17 Uhr
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