Anthropologin fasziniert KunstweltSie brachte den Matsutake-Pilz gross raus
Die Zeitschrift «Art Review» kürte die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing zur einflussreichsten Persönlichkeit in der Kunstwelt. Tsings Buch über einen Pilz fasziniert.

Auf der Liste der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten im Kunstbetrieb, welche die Zeitschrift «Art Review» letzte Woche veröffentlicht hat, befindet sich Anna Lowenhaupt Tsing auf Platz zwei. Sie rangiert hinter einer Software für Non Fungible Tokens (NFTs), mit deren Hilfe das Eigentumsrecht an einem Kunstwerk in einer Blockchain abgesichert werden kann.
Die 1952 geborene Anna Lowenhaupt Tsing ist keine Künstlerin, sondern eine berühmte Anthropologin, die an der Universität von Santa Cruz lehrt. Mit ihren Büchern, zuletzt mit ihrem zum Kultbuch avancierten «Der Pilz am Ende der Welt», das 2015 in den USA erschien und 2018 auf Deutsch übersetzt wurde, übt sie eine grosse Faszination auf Kunstschaffende aus. Das Buch zeigt Wege auf, wie man in einer Welt überleben kann, deren Landschaften zunehmend zerstört sind.
Der in diesem Buch beschriebene Pilz gedeiht am besten in Kiefernwäldern, die auf vom Menschen gerodeten und zerstörten Landschaften wachsen. Er gehört zur Familie der Ritterlingsverwandten und heisst Matsutake. In Japan gilt er als grosse Delikatesse, die unter Feinschmeckern Rekordpreise erzielt.
Pilzsuche in Oregon
Ihren faszinierenden Essay «The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins», so der Originaltitel, beginnt Anna Tsing in den Wäldern von Oregon, wo sie auf Geflüchtete aus Südostasien trifft, die diese Pilze suchen und über eine komplizierte Handelskette nach Japan exportieren. Dort ist der Pilz immer seltener geworden, da Laubwälder überhandnehmen, die allmählich die Kiefern verdrängen.
Der Gegenstand dieser preisgekrönten und in viele Sprachen übersetzten Erzählung ist die Ökologie des Matsutake, das Beziehungsgeflecht um den Pilz herum, als Pars pro Toto des Lebens auf den Ruinen des Kapitalismus, das, wie Tsing erklärt, ein Leben in Beziehungen sein wird – oder aber nicht sein wird.
Plantagozän statt Anthropozän
Tsing ist der Ansicht, dass der Begriff des «Plantagozäns» eine gute Alternative zum Anthropozän wäre. Sie vertritt die These, dass nicht alle Menschen gleichermassen für die globale Umweltzerstörung verantwortlich sind, sondern insbesondere die europäischen Kolonisten, die seit 1500 mit dem Plantagenmodell, das eng mit Sklaverei, Rassismus und Kapitalismus verbunden ist, die natürlichen Ressourcen auf allen Kontinenten ausbeuteten und damit erhebliche, oft nicht wiedergutzumachende Umweltschäden verursachten.
Die Anthropologin gehört ausserdem zu einer Forschungsgruppe an der Stanford University, die 2020 den sogenannten «Feral Atlas» entwickelt hat, bei dem es sich um eine online zugängliche, interaktive und multimediale Plattform handelt, auf der Forschungsergebnisse über invasive Tier- und Pflanzenarten und deren Dynamik im Anthropozän zugänglich gemacht werden. Der enzyklopädische, hervorragend gestaltete «Feral Atlas» ist eines der innovativsten digitalen Projekte, die es in den Geistes- und Naturwissenschaften gibt.
Angesprochen auf die Möglichkeiten der Kunst im Kampf um das Überleben auf diesem Planeten, meint Tsing in einem Interview, das die «Art Review» mit ihr geführt hat: «Kunst kann die Neugier und Offenheit fördern, welche die neue Sensibilität hervorbringt, die wir brauchen, um die anstehenden Probleme zu bewältigen.»

Anna L. Tsing: «Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus». (Original: «The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins», Princeton University Press, Princeton 2015). Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 448 S., ca. 22 Fr.
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