Sex als Politikum
Afghanistan steht vor den Wahlen am Donnerstag unter Hochspannung. Auch gestern starben wieder mindestens sieben Menschen bei einem Anschlag in Kabul. Eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen sich fast alle im Land, besonders aber die Frauen.
Es war eine kleine Sensation. Jedenfalls für afghanische Verhältnisse. Mitte April 2009 zogen in Kabul Dutzende junger Frauen auf die Strasse, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, das Vergewaltigung in der Ehe faktisch legalisiert. Die Frauendemonstration war im Männerland Afghanistan ein Tabubruch. Die Frauen wurden mit Steinen beworfen und übelst beschimpft. Die Polizei musste einschreiten. Folgen der VerweigerungGeholfen haben die mutigen Proteste jedoch kaum. Präsident Hamid Karzai segnete das kontroverse Gesetz, wenn auch leicht geändert, jüngst in aller Stille ab – vorbei am Parlament. Offenbar will sich der 51-Jährige damit Männerstimmen bei den Präsidentenwahlen vom Donnerstag sichern. Das neue Familienrecht gilt für Schiiten, die etwa 15 Prozent der 32 Millionen Afghanen ausmachen und schreibt faktisch vor, dass Frauen ihren Ehemännern sexuell gefügig zu sein haben: So darf ein Mann seine Ehefrau hungern und darben lassen, wenn sie seine sexuellen Gelüste nicht stillt.Auch sonst scheint das neue Familienrecht vor allem ein Ziel zu haben: Vorteile für die Männer gesetzlich zu verankern.So fällt im Falle einer Scheidung – die de facto nur der Mann erwirken kann – das Sorgerecht für die Kinder automatisch dem Vater oder Grossvater zu. Wenn der Vater stirbt, fällt das Sorgerecht seinem Vater zu. Vergewaltiger können zudem der Strafe entgehen, wenn sie der Familie des geschändeten Mädchens ein «Blutgeld» zahlen. Fortschritte in den Städten . . .Frauen und Menschenrechtsorganisationen zeigten sich empört. Von einem «Ausverkauf der Frauenrechte» sprach Human Rights Watch (HRW). «Karzai hat die Frauen verraten, um sich die Rückendeckung der Fundamentalisten zu sichern», sagt HRW-Asiendirektor Brad Adams. Auch die USA und Grossbritannien hatten das Ursprungsgesetz verurteilt. Nun hielten sie sich aber mit offener Kritik zurück. Sie wollen vor den Wahlen nicht noch mehr Öl ins Feuer giessen.Der Konflikt wirft ein Schlaglicht auf die Lage der Frauen, acht Jahre nach dem Sturz der Taliban. Einerseits gibt es Fortschritte. Afghanistans Verfassung garantiert den Frauen zumindest auf dem Papier gleiche Rechte. Vor allem die Frauen in den Städten werden mutiger und geniessen mehr Freiheiten. Es gibt Ansätze einer Frauenbewegung. Die blauen Burkas sieht man seltener in den Strassen Kabuls, immer mehr Frauen zeigen Gesicht. Frauen studieren und gehen arbeiten. Von den 6,5 Millionen Schulkindern sind heute 38 Prozent Mädchen. 2002 waren es nur verschwindende drei Prozent. Frauen sind heute Juristinnen, Polizistinnen und Politikerinnen. Im Parlament sind 27 Prozent der Abgeordneten Frauen. . . . aber nicht auf dem LandAber für die Masse der Frauen auf dem Lande hat sich meist wenig verbessert, vor allem nicht in den konservativen Regionen. Die Männer sehen Ehefrau, Tochter oder Schwester vielfach als Eigentum an, über das man verfügen kann. Dieses Denken ist tief in den Köpfen und der Kultur verwurzelt. 60 Prozent aller Frauen werden bereits als Mädchen zwangsverheiratet, oft sind sie nicht älter als neun Jahre. Viele erleben einen Albtraum hinter verschlossenen Türen, werden geschlagen und missbraucht. Manche sind derart verzweifelt, dass sie sich selbst in Flammen setzen, um dem Martyrium zu entkommen. In Afghanistans Krankenhäusern ringen Opfer von Selbstverbrennungen um ihr Leben. Die meisten sterben, bevor sie ein Spital erreichen. Zwar hofierten die Kandidaten nun die Wählerinnen mit schönen Worten. Und Frauengruppen haben eine Kampagne gestartet, um Frauen zu ermutigen, zur Wahl zu gehen. Immerhin stellen sie die Hälfte der 32 Millionen Einwohner des Landes. Aber wie wenig er die Frauen als Wahlfaktor ernst nimmt, zeigte Karzai nun mit dem umstrittenen Gesetz. Tatsächlich entscheidet meist das männliche Familienoberhaupt, wer gewählt wird. 80 Prozent aller Afghaninnen können zudem nicht lesen und schreiben. Zwar gibt es unter den 36 Präsidentschaftskandidaten auch zwei Frauen. Aber ihre Chancen sind gleich null.Uhr aus Kalkül zurückgedrehtAllerdings kann man keine Wunder erwarten. Auch in Westeuropa verboten noch in den 50er-Jahren Männer ihren Frauen das Arbeiten, diktierten die Wahlentscheidungen und pochten auf die «ehelichen Pflichten». Ein Bewusstseinswandel braucht Jahrzehnte. Doch die jüngsten Zeichen stimmen wenig hoffnungsvoll. Viele fürchten, dass die Regierung aus populistischen Gründen die Uhr zurückdreht. «Diese Art barbarischer Gesetze sollten nach dem Sturz der Taliban der Vergangenheit angehören», mahnte HRW-Asiendirektor Adams. «Stattdessen hat sie Karzai mit offiziellen Weihen wiederbelebt.»>
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