73 Wolfsrisse im letzten JahrSchafbauer zieht trotz Gefahr wieder auf die Alp
Philipp Jacobi verbringt den Sommer auf der Alp Stutz im Bündnerland. Für seine Schafe hofft er, dass der Wolf sich dieses Jahr zurückhält.

Es ist Hochbetrieb im Schafstall.
Als Philipp Jacobi mit seinem SUV samt Anhänger auf seinem Hof in Wahlendorf in der Gemeinde Meikirch einbiegt, bleibt keine Zeit für Vorstellungsrunden. Er macht sich schnurstracks auf den Weg in den Stall. Als er das Eingangsgitter öffnet, weichen Dutzende Mutterschafe zurück. Heiser blökende Lämmchen hüpfen nervös über den strohbedeckten Boden. Einige von ihnen sind schmal genug, um durch die Metallstäbe nach draussen zu schlüpfen. Eins legt sich auf den asphaltierten Vorplatz, der von der Frühlingssonne aufgewärmt ist.
Jacobi, in Latzhose und Gummistiefeln, hat schnell ausgemacht, welches Schaf seine Hilfe benötigt. Es ist eine braune Aue, die offenkundig Schmerzen hat. Kein Wunder, sie ist mitten in den Geburtswehen. Die Vorderbeine ihres ungeborenen Jungtiers schauen schon aus ihr raus. Der Schafbauer redet sanft auf sie ein, gewinnt ihr Vertrauen, bis er nahe genug bei ihr ist, um sie festzuhalten.
«Es kommt gut»
Es ist eine schwere Geburt. «Meistens brauchen sie keine Hilfe», sagt Jacobi. Zum Glück. Müsste er bei all seinen Schafen Geburtshelfer spielen, käme er zu nichts anderem mehr. «Das meiste an einem Tag waren 50 Jungtiere.» Inzwischen habe sich die Lage etwas beruhigt. Geburten gibt es zwar noch immer, bis in den Mai hinein. Aber inzwischen kommen sie nur noch vereinzelt.

Partnerin Caroline Specker hilft nun mit. Beruhigt das werdende Mutterschaf, während Jacobi auf seine Unterlippe beisst und mit voller Kraft zieht. Dann geht es plötzlich schnell. Ein schwarzes, patschnasses Lämmchen flutscht zu Boden. Regungslos hängt es in Jacobis Hand. Das Mutterschaf blökt erschöpft, schaut zu, wie ihm der Bauer sein Neugeborenes vor die Nase plumpsen lässt. Fast ruppig reibt er es mit Stroh trocken, tätschelt ihm ein paarmal auf die Seite und sagt: «Es kommt gut.» Tatsächlich hebt und senkt sich der Brustkorb des Lamms, die Mutter beginnt, es sauber zu lecken. Kaum zehn Minuten wird es dauern, bis es seine ersten staksigen Schritte machen und zusehen wird, wie seine Mutter ein zweites Schäfchen zur Welt bringt.

Im Reich der Beverin-Wölfe
Philipp Jacobi zuckt nur mit den Schultern auf die Frage, wie er auf die Schafe gekommen sei. Er halte schon Schafe, seit er zehn Jahre alt war. Nein, ein Bauernsohn sei er nicht. Im Gegenteil: Vater Anwalt, Mutter Lehrerin. Aber als Hobby hatte er hinter dem Haus erst drei Schafe, dann fünf, bald zwanzig. Heute sind es rund 600. Und Jacobi lebt von ihnen.
Die Schafe, die bei ihm in Wahlendorf heranwachsen, werden den Sommer im Bündnerland verbringen. Jacobi hat die Alp Stutz oberhalb von Splügen gepachtet. Zusammen mit rund hundert Rindern werden die Schafe dort von Mitte Juni bis Ende September grasen – unter der Obhut von Jacobi, seiner Partnerin und fünf Herdenschutzhunden. Letztere spielen eine wichtige Rolle, denn die Alp Stutz ist Wolfsgebiet. Hier lebt das berüchtigte Beverin-Wolfsrudel, das schon viele Schafe auf dem Kerbholz hat.

Jacobi erzählt von seinen Erfahrungen mit den Raubtieren: «Sobald wir dort oben waren, waren auch die Wölfe da», sagt Jacobi. Das erste Schaf habe es schon in der zweiten Nacht erwischt. Trotz Elektrozäunen und fünf Herdenschutzhunden. Darauf habe er, wie es bei Wolfsrissen Pflicht ist, die Wildhut informiert. Diese sei mit Nachtsichtgeräten aufgekreuzt und habe in der Nacht darauf gesehen, wie vier Wölfe in die Schafherde eindrangen. «Diesmal konnten die Hunde aber die Wölfe in die Flucht schlagen.» Als einer der Hunde den flüchtenden Wölfen hinterherjagte, geriet er in einen Kampf, stürzte ab und kam ums Leben.
So sei das den ganzen Sommer weitergegangen. In einer Nacht habe es ganze 13 Schafe erwischt. «Bei jeder Gelegenheit kamen sie wieder.» Die traurige Bilanz Ende Alpsommer: 73 gerissene Schafe. Für sie wurde Jacobi zwar entschädigt, aber, sagt er: «Da machst du einen Schlechten.» Im Schnitt 450 Franken Schadenersatz habe er pro gerissenes Schaf erhalten. «Du hast immer Schafe, die du sowieso im Herbst metzgen möchtest», sagt der Schafbauer. «Aber die nimmt es nie. Sondern immer diejenigen im besten Alter, die viel Geld gekostet haben und mit denen du weiterzüchten möchtest.»
Acht Herdenschutzhunde auf der Alp
Jacobi steht jetzt draussen, auf einem eingezäunten Stück Weide. Bei ihm stehen drei grosse, weisse Hunde, die ihn beschnuppern, ihm den Handrücken ablecken. Einer davon ist ein Patou, ein Pyrenäenberghund. Mit windfrisierter Langhaarmähne und spitzer Schnauze. Der Bruder des abgestürzten Hundes, erzählt sein Halter. Die beiden anderen sind Kangals, Anatolische Hirtenhunde. Insgesamt wird Jacobi im Juni acht Herdenschutzhunde und fünf Border-Collies zum Schafehüten mit auf die Alp nehmen. Zusammen mit den 600 bis 800 Schafen, die es dann sein werden.

Er sei nach dem letzten Jahr zwar schon ins Grübeln gekommen. «Will ich das wirklich wieder, dass zehn Prozent meiner Tiere dort oben sterben?» Jacobi könnte auch in Wahlendorf einen grossen Stall bauen, die Schutzhunde verkaufen und die 11’000 Franken einsparen, die ihn der Schaftransport ins Bündnerland jedes Jahr kostet. «Aber der Sommer hier im Unterland ist nichts für die Schafe», sagt er. Viel zu warm sei es, die Schafe würden nur von einem Baum zum nächsten rennen, Schatten suchen, nichts fressen. «Schafe sind prädestiniert dafür, die Alpen zu pflegen,» sagt Jacobi. Deshalb gehts auch dieses Jahr wieder rauf, auf rund 2000 Meter.
Keine Angst vor dem Seeland-Wolf
Immerhin darf Jacobi hoffen, dass es dieses Jahr besser wird in Sachen Wolf. Das Beverin-Rudel wurde nämlich im vergangenen Jahr dezimiert. Erst wurden zwei Jungwölfe zum Abschuss freigegeben und erlegt, später noch der Leitwolf. Ihn kannte man unter dem Namen M92.
Es waren Abschüsse, die für Jacobis Geschmack viel zu spät kamen. «Das ganze Rudel hätte man schon vor zwei oder drei Jahren eliminieren sollen. Das hat sich schon lange nicht mehr natürlich verhalten», findet er. Es könne sein, dass sich das Rudel nun auflöse. Es könne zwar ein neues Männchen dazustossen, aber Junge gebe es dieses Jahr wohl noch keine.
«Man hätte von Anfang an unterbinden sollen, dass der Wolf sich ausbreitet.»
Inzwischen ist der Wolf auch an den Rändern des Seelands aufgetaucht. In Moosaffoltern gab es jüngst zwei Schafrisse, auf dem Schüpberg ein totes Reh. Jacobi zeigt auf den Waldrand ein paar Hundert Meter weiter: Dort oben sei auch einer gesichtet worden. Vielleicht wollte er zu seinen Schafen. Das schüchtert Philipp Jacobi nicht ein. «Wenn der Wolf da ist, heisst das nicht automatisch, dass es viele Nutztierrisse gibt.» Der Wolf könne sich auch ganz normal verhalten, dann liesse sich mit ihm leben.
Mit dem Wolf leben. Das müsse man nun sowieso. Überall in der Schweiz. «Den bringt man nicht mehr weg», sagt Jacobi, auch wenn es ihm anders lieber wäre. «Man hätte von Anfang an unterbinden sollen, dass er sich ausbreitet», findet er.
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