Französischer Reaktor beschädigtSchweizer AKW-Betreiber suchen nach Rissen
Der Fund eines ungewöhnlich grossen Schadens in einem Kernkraftwerk in Frankreich hat Folgen: Auch hiesige Anlagen müssen überprüft werden.

Bernard Doroszczuk wählt deutliche Worte: Das sei kein Haarriss, das sei ein Problem, sagt der Chef der französischen Behörde für Atomsicherheit (ASN). In Reaktor 1 des Kernkraftwerks Penly am Ärmelkanal ist letzte Woche eine ungewöhnliche Entdeckung gemeldet worden: ein 15 Zentimeter langer Riss in einer Leitung des Notkühlsystems, was einem Viertel des Leitungsumfangs entspricht. Der Riss war bis zu 2,3 Zentimeter tief, die Leitungshülle ist 2,7 Zentimeter dick.
Es ist der bislang grösste entdeckte Korrosionsschaden in einem französischen Atomreaktor. Wegen erhöhter Wahrscheinlichkeit eines Bruchs klassifizierte die ASN das Ereignis auf der zweiten von acht Warnstufen für nukleare Ereignisse, also als Störfall. Zur Einordnung: Die Skala reicht von 0 (keine oder geringe sicherheitstechnische Bedeutung) bis 7 (katastrophaler Unfall). Penly ist derzeit abgeschaltet, soll aber im Mai wieder ans Netz gehen. Der Fund werde dazu führen, dass andere Kraftwerke für Kontrollen länger abgeschaltet werden müssen, berichtete die Zeitung «Le Monde» letzte Woche.
Fehler beim Bau passiert?
Und in der Schweiz? Sobald in einer in- oder ausländischen Atomanlage Ereignisse der Warnstufe 2 oder höher aufgetreten sind, müssen die Schweizer Kernkraftwerksbetreiber reagieren, genauer: ihre Kernkühlung unverzüglich überprüfen und das Resultat dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi mitteilen; so sieht es die Gesetzgebung vor. Das Ensi bestätigt auf Anfrage, dass nun eine «erneute Abklärung und eine Bewertung allfälliger Massnahmen durchgeführt werden».
Erneut deshalb, weil bereits seit Ende 2021 in mehreren neueren Atomkraftwerken in Frankreich feine, bis zu 6 Millimeter tiefe Risse an Rohrleitungen aufgetreten waren. Das Ensi klärte daraufhin mit den Betreibern ab, auf welchen Leitungsabschnitten dies auch in Schweizer Meilern theoretisch passieren könnte, und ordnete bei einem Teil der Schweissnähte eine Sonderprüfung an.
Laut der französischen Atomaufsicht habe der Riss keine Auswirkungen auf Personal oder Umwelt gehabt. Er beeinträchtige jedoch die Sicherheitsfunktion, die mit der Kühlung des Reaktors verbunden sei. Fachleute gehen davon aus, dass bei Penly die Risse auf einen Fehler beim Bau des Kernkraftwerks zurückgehen. Offenbar wurden die Leitungen zurechtgebogen, um sie zu schweissen, dann gab es Fehler an den Schweissnähten, worauf sie noch mal repariert wurden. Eine inakzeptable Vorgehensweise sei dies, urteilt die französische Atomaufsicht ASN.
«Die Betreiber müssen bei den neuen Abklärungen sehr konservativ vorgehen.»
Solche Befunde sind aus der Schweiz nicht bekannt. Auch sieht es nicht danach aus, dass eines oder mehrere der vier Schweizer Kernkraftwerke nun vorübergehend vom Netz müssen. Das Ensi kann zwar nicht vollständig ausschliessen, dass einer der Meiler ähnliche unentdeckte Risse aufweist. Allerdings, so macht die Behörde klar, ist eine geeignete Prüftechnik vorhanden, um solche Risse aufspüren zu können. Zudem seien die Betreiber zu zahlreichen Sicherheitsmassnahmen verpflichtet, so etwa müssten sie mit speziellen Programmen die Alterung und Ermüdung des Materials überwachen.
Der Umweltorganisation Greenpeace genügt dies nicht. «Wir fordern, dass die Betreiber bei den neuen Abklärungen sehr konservativ vorgehen», sagt Atomexperte Florian Kasser. Sie müssten nun alle Bereiche des Kühlsystems prüfen, in denen bis jetzt Korrosion nicht zu erwarten gewesen sei. «Es darf nicht sein, dass sich die Abklärungen in der Schweiz allein am Stand des Wissens in Frankreich orientieren.» Gerade mit Blick auf das hohe Alter der Schweizer AKW – Beznau 1 als älteste Anlage steht im 53. Betriebsjahr – sei mit Überraschungen zu rechnen.
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