Wann, wenn nicht jetzt?
Die Spitze der Tessiner FDP favorisiert die Einerkandidatur Ignazio Cassis. Ihre Rechnung dürfte aufgehen.

Geht es nach dem Vorstand der Tessiner FDP, soll Ignazio Cassis Bundesrat werden. Das Nachsehen haben die frühere Regierungs- und Nationalrätin Laura Sadis, die in Bern kaum Spuren hinterlassen hat, sowie der in der Deutschschweiz weitgehend unbekannte Staatsrat Christian Vitta. Entscheiden sich die FDP-Delegierten des Südkantons am 1. August nicht doch für ein Zweierticket, tritt Cassis mit guten Karten zur Bundesratswahl an.
Tessiner Exponenten, die für eine Doppelkandidatur werben, tun dies primär aus politischen Gründen – weil sie wie der frühere Staatsanwalt Paolo Bernasconi eine linksfreisinnige Kandidatur wünschen. Allerdings wäre es alles andere als sicher, dass die FDP Schweiz beide Personen eines solchen Tickets offiziell nominierte und nur mit Tessinern in die Bundesratswahl steigen würde. Eine Einerkandidatur nach dem von Alt-FDP-Präsident Fulvio Pelli geprägten Motto «Ticino unito» macht deshalb Sinn. Die besten Wahlchancen hat dabei Cassis, auch wenn er in seinem Heimatkanton nicht unumstritten ist.
Öffentlich geröntgt
Als gut bezahlter Präsident des Krankenkassenverbands Curafutura und als FDP-Fraktionschef ist der Arzt aus dem noblen Montagnola vielen Tessinern fremd geblieben. So hat er bei den Nationalratswahlen 2015 gegenüber 2011 über 1800 Stimmen eingebüsst. Insbesondere die Lega kanzelt ihren erklärten Gegner regelmässig ab. Die Rechtspopulisten haben wenig Interesse an einem Tessiner Bundesrat, der die Sichtweise des Südkantons in die Landesregierung einbringt. Sie leben von der Stimmungsmache gegen Bern.
Internist Cassis wird in den kommenden Wochen öffentlich geröntgt. Dabei werden auch Episoden zutage gefördert wie der Führerausweisentzug von 2009, als Cassis mit 171 Stundenkilometern über die Autobahn gebrettert war. Es macht Sinn, Bundesratskandidaten auf Herz und Nieren zu prüfen. Im Fall des verstorbenen SVP-Nationalrats Bruno Zuppiger konnte so verhindert werden, dass der durch eine Erbschaftsaffäre belastete Kandidat womöglich Bundesrat wurde.
Gleichzeitig liegt der Grund für Vorbehalte an den Kandidaten oft auf der Hand – vor allem wenn sie vom politischen Gegner stammen. So ist die linke Kritik an Cassis' Engagement gegen die Rentenreform primär Abstimmungstaktik. Und sie wirkt. Im TA-Interview erklärt Cassis brav, er werde «kaum Zeit haben», um sich im Abstimmungskampf gegen die Rentenreform stark zu engagieren. Durchsichtig auch das Manöver des designierten GLP-Präsidenten Jürg Grossen. Dem «Blick» erklärte er, es sei wichtiger, nun eine Frau anstatt eines Tessiners zu wählen. Grossen, der nur GLP-Chef wurde, weil zwei profilierte Frauen abgesagt hatten, will sich und seine Partei als besonders fortschrittlich positionieren.
Mehr als schrulliges Gejammer
Aller Voraussicht nach wird Cassis im September gegen eine Kandidatur aus der Romandie antreten – gegen nicht wirklich zwingende Kandidaten wie Isabelle Moret oder Pierre Maudet. Unterlaufen ihm keine groben Fehler, dürfte er Favorit bleiben. Zu Recht, denn der Tessiner hat das Zeug zum Bundesrat: Cassis zeigt als Nationalrat Führungsqualitäten und Kompromissbereitschaft – auch wenn dies seine Gegner bei der Rentenreform bestreiten –, politisiert kompetent und gesellschaftsliberal. 18 Jahre nach dem Rücktritt von Flavio Cotti ist zudem die Konstellation für einen Tessiner Bundesrat so günstig, wie seit Langem nicht mehr. Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Südkanton zum Zug kommen?
In der Deutschschweiz neigt man dazu, Tessiner Befindlichkeiten als schrulliges Gejammer abzutun. Das ist gefährlich, gehört doch die Rücksichtnahme auf Minderheiten zum Wesensmerkmal des Landes. Ein Tessiner Bundesrat wäre ein Bekenntnis zur nationalen Kohäsion, auch wenn die konkreten Auswirkungen für den Kanton bescheiden blieben. Folgenreicher wäre, dass mit Cassis die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nach rechts kippten. Das aber entspricht der aktuellen politischen Realität. Es ist der FDP nicht zu verübeln, dass sie wieder einen Bundesrat stellen will, der ihre Positionen konsequent vertritt – konsequenter, als es Didier Burkhalter in den letzten Jahren getan hat.
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