Auto Shanghai 2023Schöne neue (Auto-)Welt
An der grössten Automesse der Welt in Shanghai wird die Zukunft einer Branche ausgestellt, deren Zentrum bald China sein könnte.

An der ersten Automesse in Shanghai seit drei Jahren erinnert kaum etwas an den Ausnahmezustand, der bis vor kurzem in China herrschte. Masken tragen selbst die Einheimischen nur noch höchst selten, niemand muss mehr seinen Gesundheitszustand mit einem QR-Code am Eingang beweisen, und vom in Europa gern ausgerufenen Ende des Formats Automesse ist erst recht nichts zu spüren: Auf einer Fläche, gross wie eine Schweizer Kleinstadt, haben sich 1000 Aussteller eingeschrieben, über 100 Weltpremieren werden hier gezeigt, und 70 davon sind Neuheiten auf dem Gebiet elektrisch angetriebener Fahrzeuge.
Wer sich auf den weiten Weg durch die riesigen Hallen macht, sieht natürlich viele einheimische Anbieter. China ist der grösste Elektroauto-Markt überhaupt, und während man sich in Europa noch bis vor kurzem über die eher zweifelhaften chinesischen Kopien europäischer Design- und Markenideen erheitert hat, zeigt sich heute ein ganz anderes Bild.
Chinesische Hersteller wie BYD (Build Your Dreams) sind auf dem Heimmarkt bereits gut etabliert, Marken wie Zeekr, Aito, Xpeng, Lynk & Co oder Avatr haben attraktiv designte Modelle im Programm. Der Avatr 11 etwa ist ein schicker Premium-SUV mit drei Bildschirmen im Innenraum und einer 116-kW-Batterie für 680 Kilometer Reichweite im Unterboden. Das Modell entsteht in einer Kooperation dreier Riesen, dem Autohersteller Changan Auto, dem Techgiganten Huawei sowie CATL, dem grössten Lithium-Ionen-Anbieter der Welt.
Das Ende jeder Reichweitenangst
Der grösste Zulauf überhaupt, auch wenn das natürlich nur anekdotische Aussagekraft hat, ist am Stand von Nio zu beobachten. Das 2014 gegründete chinesische Start-up mit globalem Anspruch fasst mit einem ganzheitlichen Community-Konzept und revolutionärer Batterietechnologie gerade auch in Europa Fuss. Als einziger Elektroauto-Anbieter überhaupt verfügt Nio über eine Wechseltechnik, die es ermöglicht, die Fahrzeug-Batterie in wenigen Minuten an speziellen Stationen auszutauschen, was – in Kombination mit herkömmlichen Schnellladern – das Ende jeder Reichweitenangst bedeutet.
In Shanghai präsentiert Unternehmensgründer und CEO William Lee den neuen ES6, einen mittelgrossen Premium-SUV mit Hai-Schnauze, abfallender Dachlinie und strichartigen LED-Leuchten an Front und Heck. Aber Nio bietet daneben ein ganzes Ökosystem an Erlebniswelten an, ist Autohersteller und Lifestyle-Brand gleichzeitig, stellt an der Messe die Kunstwerke seiner Kunden aus und kündigt Umweltschutz-Kooperationen mit WWF und dem Entwicklungsprogramm der UNO (UNDP) an. Das ist insgesamt eine Firmenidee, die eher an Silicon-Valley-Innovationen als an alte Industrienationen erinnert.
Im Vergleich dazu ist etwa der neu gezeigte VW ID.7 zwar eine gut gezeichnete Limousine mit ansprechender Technik, aber sicher kein revolutionäres Konzept. Bei der ebenfalls zum VW-Konzern gehörenden Premium-Marke Audi gibt es den vielversprechenden A6 Avant e-tron Concept als Designstudie zu sehen, und bei Mercedes strahlt der bunt beleuchtete Kühlergrill der elektrischen G-Klasse neben den in Europa bereits vorgestellten Elektro-SUV EQE und EQS. Eher im konventionellen Bereich bewegt sich Oberklasse-Anbieter Porsche, welcher den neuen Cayenne ausstellt. Äusserlich sind die Überarbeitungen bloss sanft ausgefallen, auffälliger ist das modernisierte Interieur. Es erinnert an den elektrischen Taycan, und der grosse SUV steht in Shanghai auch als rennstreckentaugliche Variante Turbo GT.
Polestar zeigt die Nummer 4
Wie Porsche hat auch die britische Marke Lotus 75 Jahre in den Geschichtsbüchern stehen und präsentiert sich an der Auto Shanghai kontrastreich mit dem flamboyanten Mittelmotor-Zweisitzer Emira sowie dem Eletre, einem der spektakulärsten Autos auf der Messe. Der elektrische Hyper-SUV für 116’900 Franken hat 900 PS Leistung, 600 Kilometer Reichweite und 260 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Als einer der wenigen Anbieter zeigt BMW mit dem X5 Hydrogen eine Alternative zum batterieelektrischen Antrieb. Der SUV hat einen Wasserstofftank anstelle eines grossen Stromspeichers, was insbesondere im Hinblick auf die teilweise kritische Rohstoffgewinnung für grosse Autobatterien und die problematische Umweltbilanz immer noch eine beachtenswerte Alternative darstellt. Beim chinesischen Publikum kommt die BMW-Schwestermarke Mini mit dem Aceman Concept gut an. Das lustig gezeichnete Elektromodell mit digital animiertem Union Jack im Kühlergrill soll ab 2024 das Portfolio des Herstellers ergänzen.
Die wie Volvo zum chinesischen Geely-Konzern gehörende Marke Polestar präsentiert – umrahmt von einem Meer orangefarbener Tulpen – den Polestar 4 und folgt dem Megatrend zum SUV mit Dachlinie im Coupé-Stil. Mit Allradantrieb und maximal 517 PS Leistung soll das Elektroauto – je nach Modellvariante – bis zu 610 Kilometer weit fahren können, ohne nachladen zu müssen. In chinesisch-europäischer Zusammenarbeit entsteht auch der Smart #3, der das Produkt eines Joint Ventures von Mercedes und Geely ist. Das Sports Utility Coupé mit den rundlichen Formen und dem Leuchtband in der Front entstand unter Aufsicht des Designteams von Mercedes-Benz. Im Inneren dürfte vor allem die hohe Mittelkonsole zu reden geben, die in einen oben sitzenden Bildschirm mündet.
In einer Zukunft der elektrischen Automobile, das ist auf der Messe in Shanghai in glänzenden Lackfarben zu sehen, spielt die chinesische Industrie eine Hauptrolle – als Kooperationspartner, als Zulieferer von Batterien beispielsweise und immer mehr auch als eigenständige Anbieterin zeitgemässer Fahrzeugkonzepte.
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