Assad-Regime erschwert ErdbebenhilfeRettung, aber unter Vorbehalt
Hilfsorganisationen fordern ein Ende der Sanktionen gegen Syrien. Doch in der Politik geht eine Angst um: die Anerkennung von Assads Terrorherrschaft durch die Hintertür.

Eine Karte von Flightradar zeigt die dramatische Lage im syrischen Erdbebengebiet auf ungewohnte Weise. Die Website verzeichnet in Echtzeit eine starke Zunahme von Flugzeugstarts und -landungen im türkischen Erdbebengebiet, Rettungsteams aus aller Welt landen in Adana und anderen türkischen Flughäfen. Über Syrien hingegen registriert Flightradar so gut wie keine Transportflüge. Dabei ist auch drei Tage nach dem Erdbeben die Lage in Aleppo, Idlib und Afrin ähnlich dramatisch wie auf der anderen Seite der türkisch-syrischen Grenze rund um Gaziantep.
Neben den Sanktionen behindert die Schliessung der 20 Grenzübergänge zur Türkei die nur schleppend anlaufenden Rettungsmassnahmen in Nordwestsyrien. Decken, Lebensmittel und Medikamente für die fast drei Millionen Flüchtlinge in den von Rebellen gehaltenen Gebieten kommen seit Monaten ausschliesslich über den Grenzübergang Bab al-Hawa. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gestattet Hilfslieferungen aus der Türkei in das Rebellengebiet lediglich unter der Voraussetzung, dass die Lastwagen internationaler Hilfsorganisationen in zeitaufwendigen Kontrollen auf Waffenschmuggel untersucht werden.
Jetzt, nach dem Erdbeben, ist schon der Weg nach Bab al-Hawa eine Odyssee. Retter und Hilfsgüter für Nordwestsyrien werden derzeit über den türkischen Flughafen Antakya eingeflogen, der allerdings schwer beschädigt ist. Die Strasse von Antakya zur syrischen Grenze ist stellenweise abgesackt und nur noch im Schritttempo befahrbar. Und da auch in türkischen Städten noch nicht genug Überlebenshilfe für die Frostnächte eintrifft, wird das benachbarte syrische Kriegsgebiet zusätzlich vernachlässigt. Nur die dort stationierten türkischen Soldaten und syrische Organisationen wie die Weisshelme, der Rote Halbmond oder Sams können helfen.
Der Leiter des Roten Halbmonds, Khalid Habibti, fordert die internationale Gemeinschaft auf, die Sanktionen gegen Syrien unmittelbar auszusetzen und sämtliche Grenzübergänge in die Türkei zu öffnen. «Nur so können wir in den kommenden Wochen liefern, was Zigtausende Obdachlose zum Überleben benötigen.»
Auch die Spannungen zwischen den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten und dem von verschiedenen Oppositionsgruppen verteidigten Nordwesten erschwert die Arbeit der verzweifelten Retter. Bilder der Zerstörungen in Hama, Aleppo, Afrin und Lattakia lassen befürchten, dass die bisher genannten Opferzahlen nur ein Bruchteil der noch unter den Trümmern begrabenen Familien darstellen.
Nach ihren Erfahrungen während der grossen Waldbrände im vergangenen Sommer und in der Corona-Pandemie hoffen nur wenige Syrer auf schnelle Hilfe der Regierung. Der Nachschub an Medikamenten und Hilfsgütern aus Damaskus war spärlich und kam hauptsächlich bei Regimeanhängern an. «Korruption war in den letzten zwölf Kriegsjahren ein Hauptgrund für den unnötigen Tod vieler Corona-Infizierter und Kriegsopfer», sagt Khalid Habibti.
Dennoch fordert auch der Rat der 30 christlichen Kirchen des Nahen Ostens (MECC) die Aufhebung der Sanktionen. «Ohne den Zugang zu Baumaterial und Maschinen kann auch der Wiederaufbau nach dem Krieg nicht gelingen», sagt MECC-Generalsekretär Michel Abs. «Nach dem Erdbeben muss die internationale Gemeinschaft endgültig umdenken.»
Seit 2011 sind die Wirtschaftssanktionen gegen das Regime von Bashar al-Assad in Kraft. Die EU, die USA, Kanada, Australien, die Schweiz und die Arabische Liga haben Reisebeschränkungen, Kontensperren und Ermittlungsverfahren gegen Regierungsfunktionäre erlassen. Aus der EU dürfen keine Waren nach Syrien verkauft werden, die zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden können.
Die Sanktionen gegen den syrischen Finanzsektor haben aber auch den Import nicht militärischer Güter in das Bürgerkriegsland zum Erliegen gebracht. Medikamente und Winterkleidung waren in syrischen Städten wie Aleppo schon vor dem Erdbeben knapp.
«Die politische Instrumentalisierung der Hilfe geht auch nach dem Erdbeben weiter.»
Syrien hat nun offiziell bei den Vereinten Nationen um Hilfe bei der Behandlung der Überlebenden des Erdbebens gebeten. Aber der Einsatz internationaler Retter würde über die vom Assad-Regime im Krieg etablierten Netzwerke laufen, die auch schon die Verteilung der vom Ausland gespendeten Corona-Impfstoffe an Assad-Anhänger organisiert hatten.
Ein syrischer Journalist aus Damaskus sieht die Forderung des syrischen Roten Halbmonds nach Lockerung der Sanktionen kritisch. «Damaskus hat man die humanitäre Hilfe während des Krieges an politische Loyalität geknüpft», sagt der lieber anonym bleibende Syrer. «Die politische Instrumentalisierung der Hilfe geht auch nach dem Erdbeben weiter.»
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