Erste Berner Regierungsrätin«Resigniert nicht, aber zu 150 Prozent desillusioniert»
Nach einem Streit mit der FDP wurde sie 1983 zur Galionsfigur der Umweltpolitik und der Gleichstellung. Beides sei bis heute im Rückstand, findet Leni Robert.

Typisch Leni Robert! Das Gespräch mit der kämpferischen Alt-Politikerin beginnt gleich mit einer Gegenrede. Nein, eine ignorierte Pionierin sei sie sicher nicht, sagt die 86-Jährige. «Man hat mich durchaus gehört, die Medien haben sich ja die Finger wund geschrieben über mich.»
Leni Robert steht auf, holt ein Plastikmäppli und verteilt wie zum Beweis leicht ausgebleichte Kioskaushänge mit Zeitungsschlagzeilen auf dem Küchentisch ihrer Wohnung in Muri bei Bern. «Fall Robert: Freisinnige im Clinch», schrieb etwa der «Bund».
Die Schlagzeilen stammen aus den frühen 1980er-Jahren, als sich Leni Robert mit der Stadtberner FDP verkrachte. Kühn kandidierte sie darauf als Parteilose für den Nationalrat und wurde prompt gewählt. Für ihre zahlreichen Gegner war sie ein rotes Tuch. Sie war aber auch einer der ersten weiblichen Politstars der Schweiz.
«Allein auf weiter Flur»
«Ich habe auch Mühe, mich als Pionierin zu sehen», widerspricht Leni Robert erneut. «Das waren wenn schon die Frauen, die während Jahrzehnten das Frauenstimmrecht von 1971 erkämpften.»
Das ist zwar wahr, aber auch ein Understatement. Natürlich ist Leni Robert eine Pionierin. Sie gehörte 1971 als Berner Stadträtin zu den ersten gewählten Politikerinnen. Nach dem Bruch mit der FDP wurde sie zur national bekannten Dissidentin. 1986 folgte die sensationelle Wahl für die kleine Freie Liste zur ersten Berner Regierungsrätin.
«Ich habe mich halt getraut, hinzustehen und meine Meinung zu äussern», sagt Robert. Sie hat erfahren: Wenn eine Frau das tat, fiel sie unangenehm auf. Leni Robert kämpfte – oft erfolglos – für Gleichstellung und für ökologische Anliegen. Damals sei «grün» noch ein Schimpfwort gewesen, das mit «unreif» oder «grün hinter den Ohren» gleichgesetzt wurde, erinnert sie sich.
Leni Robert sieht sich eher als «Politikerin allein auf weiter Flur». Man könne sich das kaum mehr vorstellen, wie das damals für eine Frau und frühe Grüne gewesen sei. Heute, da die Frauen im Berner Stadtparlament die Mehrheit stellen, da die Grünen wellenartig Politsiege erringen und der Klimawandel in aller Munde ist.

Leni Robert steckt die Schlagzeilen wieder ins Plastikmäppli. Auch auf dem Wohnzimmertisch liegen alte Zeitungsartikel, Briefe, Dokumente. Sie hat sie aus den Kartonkisten am Boden geholt. Ihre Wohnung sieht derzeit aus wie ein Archiv, in dem sie in die Vergangenheit taucht und Bilanz zieht über ihr Leben.
Sie fragt sich, ob sie überhaupt eine Karriere hingelegt habe. «Ich hatte nie vor, eine zu machen», sagt sie. Überhaupt habe sie auch nie Zeit gehabt, eine solche zu planen. Sie rannte gegen Widerstände an – und von Sitzung zu Session.
«Für mich war klar: Ich will für die Frauen Politik machen.»
«Wenn man in den 1970er-Jahren aus der Perspektive einer Frau auf die Realität blickte, wurde man schnell zur Feministin», sagt Leni Robert. Für Frauen sei damals «alles, einfach alles, anders gewesen als für die Männer»: die Berufswelt, das Wohnen, das Quartier, die Ehe, die Familie. «Für mich war klar: Ich will für die Frauen Politik machen.» Dass es für die Frauen eine existenzielle Notwendigkeit war, in der Politik ihren Standpunkt zu vertreten, das hätten die meisten Männer nicht verstanden. «Ich war überzeugt, dass gleiche Rechte für die Frauen zu einer menschen- und naturfreundlicheren Politik führen.»
Herrscht wirklich Gleichberechtigung?
Beim Bilanzieren beschäftigt Leni Robert eine Frage besonders: Haben sich die Welten von Frauen und Männern mittlerweile angeglichen? «Frauenkarrieren ähneln heute denen der Männer», sagt sie. «Umso wichtiger ist es, dass Frauen sich ihren eigenen Blick bewahren.»
Als am 25. September die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre haarscharf angenommen wurde, erklärte das befürwortende Lager, Frauen und Männer hätten mittlerweile gleiche Bedingungen. Die Gleichberechtigung sei realisiert. Was denkt Leni Robert? «Die gleichen Rechte existieren vielleicht auf dem Papier, aber noch lange nicht in der Realität», findet sie.
Will sie nicht wahrhaben, dass die Gleichberechtigung, für die sie gekämpft hat, mittlerweile weitgehend erfüllt ist? «Man muss die Politik immer misstrauisch überprüfen und schauen, ob ihre Beschlüsse auch wirklich umgesetzt werden», erwidert Leni Robert. Männer verdienten immer noch mehr und besetzten den Löwenanteil der Chefposten. Sie macht deshalb kein Geheimnis daraus, dass sie das AHV-Alter 65 für Frauen abgelehnt hat.
Das Zerwürfnis mit der FDP
Inzwischen hat sie in diversen Papierbeigen die nötigen Dokumente und Medienberichte gefunden, um ihren heftigen Karrierestart zu dokumentieren. Ihre Politlaufbahn beginnt in den 1970er-Jahren mit einem «Irrtum»: Sie lässt sich für die Freisinnige Partei ins Berner Stadtparlament wählen. Zwar sei in ihrer Familie politisiert worden. «Aber ich hatte nie eine parteipolitische Bindung», sagt sie. So wie sie auch keine klare örtliche Zugehörigkeit gekannt habe.
Ihr Vater ist Bauingenieur und zieht mit der Familie seinen Projekten nach. Als er die Bauleitung der Kraftwerksbauten an der Grimsel innehat, besucht Leni Robert nach der Primarschule in Bern die Sekundarschule in Meiringen im Haslital. Das Gymnasium absolviert sie in Schaffhausen und wohnt mit vielen Freiheiten bei der Grossmutter. In Zürich und Bern beginnt sie ein Studium der Slawistik und Germanistik, in Warschau lernt sie Polnisch.
«Ich bin der FDP beigetreten, weil es eine staatstragende Partei war, in deren Zielsetzungen von 1971 von Freiheit und Umweltschutz die Rede war», sagt die freiheitsliebende Leni Robert. Bald musste sie jedoch erfahren: Wenn auch eine Frau Freiheiten beansprucht, ist sie beim Freisinn bald «nicht mehr genehm». Das Zerwürfnis bahnt sich an, als sie sich in einer Stiftung engagiert, die sich gegen die Verhärtung zwischen der damaligen Jugendbewegung und den Behörden wehrt.
Für diese Organisation nimmt sie 1982 – damals ist sie Grossrätin – als Beobachterin an einer Demo vor der zugesperrten Berner Reitschule teil. Mit anderen Unbeteiligten wird sie mit Tränengas in den Hof der Polizeikaserne getrieben und dort angehalten. «Ich war schockiert über das Kommando ‹Alle an die Wand!›», erzählt sie.

Ein Journalist des Newsmagazins «Die Woche» aus dem Ringier-Verlag befragt sie und überschreibt seinen Bericht mit der Schlagzeile «FDP-Grossrätin beweist den Terror unserer Polizei». Alarmrot umrandet ist der Aushang der «Woche», den Robert noch einmal aus dem Schlagzeilen-Mäppli zieht. Was man wissen muss: Der Stadtberner Polizeidirektor Marco Albisetti gehörte damals exakt jener FDP an.
Der Coup mit der Freien Liste
Die Retourkutsche der Parteigranden kommt 1983 an der Nominationsversammlung der Stadtberner FDP im Bürgerhaus an der Neuengasse. Eilig zusammengetrommelte Passivmitglieder der Partei sind anmarschiert, um Leni Robert die Stimme zu versagen. Sie wird nicht aufgestellt. «Ich kam mir vor wie ein begossener Pudel», erinnert sie sich.

Noch am Anlass selbst gibt es Widerstand gegen das Vorgehen der Parteileitung. Etliche prominente Mitglieder treten aus der FDP aus und erwägen eine eigene Liste, für die Leni Robert kandidieren soll. «Beim Hinausgehen sicherte mir ein Industrieller von der FDP im Lift des Bürgerhauses finanzielle Unterstützung zu», erzählt sie. Der innerparteiliche Zwist im Berner Freisinn schlägt schweizweit Wellen. Und die Gründung der Freien Liste erschüttert das Berner Politestablishment. 1983 wird Leni Robert auf der Freien Liste souverän in den Nationalrat gewählt – auf Kosten der FDP.

Trotz Rückenbeschwerden steht sie nun wieder vom Küchentisch auf und findet endlich die damalige Wahlliste. Sie ist ein Who’s who profilierter und unabhängiger Berner Köpfe. Unter ihnen die einstigen Politgrössen Ruth Geiser-Imobersteg, Joy Matter und Lukas Fierz oder Chansonnier Fritz Widmer. «Ich bin immer noch stolz auf diese Liste, der Wahlkampf damals war eine Superübung», schwärmt Leni Robert mit leuchtenden Augen.
«Ich habe häufig so gestimmt wie die Linke», sagt sie. Warum trat sie dann nicht der SP bei? «Die SP wirkte damals auf mich wie eine geschlossene Familie, ich wäre mir dort wie ein Eindringling vorgekommen.» Für die paar Frauen, die ab 1971 in die Politgremien einziehen, ist schnell klar: Sie müssen sich den Männern anpassen, den Stallgeruch der Partei annehmen und geduldig für Parteiämtli anstehen. Aber Leni Robert ist ungeduldig, unabhängig, neugierig.
Mit 32 Witwe und alleinerziehende Mutter
Sie ist 32-jährig, als 1968 ihr Mann an einer Krankheit stirbt. Als junge Witwe und alleinerziehende Mutter eines damals knapp 3-jährigen Sohnes erlebt Leni Robert die Hürden der Gleichstellung verschärft am eigenen Leib. Gerüchtehalber wird in rechtsbürgerlichen Politkreisen herumgeboten, wenn sie einmal nicht zu Hause übernachtet. Nachts fliegen Eier an ihre Fensterscheiben. Anonyme Drohungen kommen hinzu. Leni Robert vermeidet es, rechtliche Schritte zu ergreifen. «Aus Rechtshändeln geht man meist beschädigt hervor», sagt sie.
Wenn sie ihren Sohn mal an Versammlungen oder Sitzungen der FDP mitnimmt, weil es damals noch kaum Kita-Plätze gibt, bekommt sie mitunter zu hören, sie sei eine «Rabenmutter». «Ich wusste, dass das Private durch meine Laufbahn zu kurz kommen könnte», sagt sie. Regelmässig muss sie belegen, dass sie das Sparguthaben ihres Sohnes nicht antastet. Politische Angriffe, die behördliche Aufsicht und die Drohungen hätten sie bisweilen «dünnhäutig gemacht», gesteht sie.
Trotz der Widerstände geht Leni Roberts Aufstieg weiter. Risikofreudig tritt die Freie Liste 1986 mit drei Kandierenden zu den kantonalen Regierungsratswahlen an. 1984 war die Berner Finanzaffäre geplatzt: Die Kantonsregierung hat aus schwarzen Kassen probernische Gruppen im Jurakonflikt finanziert. Regierungsräte haben gar auf Staatskosten ihr Privatauto reparieren lassen. «Gegen dieses eigenmächtige Berner Establishment wollten wir antreten», erzählt Robert.

Bei der Stichwahl vom 11. Mai 1986 ist die Sensation perfekt: Anstelle der ohne Bündnispartnerin angetretenen FDP-Spitzenleute werden Leni Robert und der unbekannte bernjurassische Tierarzt Benjamin Hofstetter in die Kantonsregierung gewählt. Der Kanton Bern hat erstmals eine rot-grüne Regierungsmehrheit. Vom Gebrauch des Etiketts «grün» hätten Berater der Freien Liste allerdings damals dringend abgeraten, erzählt Robert. Und ihre Kritiker monieren, als Parlamentarierin sei sie zwar gut im Kritisieren, aber regieren könne sie sicher nicht.
Leni Robert ist schon einiges gewohnt. Aber auf der Ebene der Exekutive sind alle Gremien nun ausschliesslich männlich. Sie erinnert sich an ihre erste Erziehungsdirektorenkonferenz. Der Präsident habe den Anlass mit der Ansage «Meine Herren» eröffnet und dann ohne Begrüssung des ersten weiblichen Mitglieds die Traktandenliste in Angriff genommen.
«In der Berner Regierung ist man anständig miteinander umgegangen», sagt Leni Robert. Mit SP-Mann René Bärtschi trifft sie sich unmittelbar nach ihrer Wahl und baut eine vertrauensvolle Kooperation auf. Als Erziehungsdirektorin macht sie aber auch unliebsame Erfahrungen. Etwa beim Unterschreiben der kantonalen Maturazeugnisse.
Ein Gymnasiumsrektor erklärt ihr, er werde den Stapel vorgedruckter Zeugnisse «bis zum letzten Blatt» aufbrauchen und nicht extra neue mit der weiblichen Form «die Erziehungsdirektorin» drucken lassen. Aber Robert ist dennoch wohl auf ihrer Wunschdirektion. Stolz ist sie auf die Einführung des späteren Sekundarschulbeginns ab der siebten Klasse. «Sogar der SVP leuchtete ein, dass Kinder mehr Zeit zum Entfalten brauchen», sagt Robert.

1990 verpasst Leni Robert die Wiederwahl in den auf sieben Mitglieder verkleinerten Regierungsrat knapp. Wie war das? «Es tat mir leid. Aber meine Abwahl war auch eine Befreiung nach vier Jahren harter Arbeit als Einzelkämpferin.» Von 1991 bis 1995 ist sie erneut im Nationalrat und in der Schweizer Delegation beim Europarat. Nach dem Ende des Kalten Kriegs geht die Welt neu auf. «Es war eine tolle Zeit», sagt sie. Die ehemalige Slawistikstudentin knüpft bei ihrer Arbeit für den Europarat bisher erschwerte Kontakte in Osteuropa.
Skeptische Rückschau
Wenn Leni Robert all diese aufreibenden und aufregenden Ereignisse Revue passieren lässt, amüsiert sie sich bisweilen über die Ironie ihres Schicksals: «Meine Laufbahn war ja eigentlich ein Versehen und das Resultat eines Streits.»
«Ich war nie eine Parteipolitikerin, ich bin eine Aktivistin.»
«Ich war nie eine Parteipolitikerin, ich bin eine Aktivistin», blickt sie zurück. Sie habe begriffen, dass Parteiarbeit allein nicht ans Ziel führe. «Es braucht auch den Druck von ausserhalb, von der Strasse. Und Netzwerke über Parteigrenzen hinweg.» Sie beschreibt sich jetzt wie eine Linke, was ihr auch ihre Gegner vorgeworfen haben. Leni Robert aber wollte das nicht sein. Ihre Freie Liste, die heute das Etikett «grün» trägt, suchte nach dem schwierigen dritten Weg abseits des Lagerdenkens.
Sie zitiert nun aus einem Interview von 2019 mit dem Berner Politikwissenschafter Adrian Vatter. Dieser spricht dort von der «Tragik der FDP» und meint damit, dass diese die Ökologiefrage verpasst habe, «obwohl Leni Robert diese schon in den 1980er-Jahren in die Partei einbrachte». Hätte die FDP dieses Thema für sich beansprucht, würde es vielleicht heute die Grünliberalen gar nicht geben, vermutet Vatter.
Leni Robert hat dem nichts hinzuzufügen. Ausser Erinnerungen wie diese: In der freisinnigen Stadtratsfraktion hat sie in den 1970er-Jahren bei der Vorlage für den neuen Schlachthof im Wankdorf gewarnt: «Wir sollten aus Umweltgründen weniger Fleisch essen.» Aber Ökothemen waren damals ein belächeltes Nischen- und Nebenthema. Etwas für die Frauen.
«Klar bin ich glücklich, dass es nun viele Frauen in der Politik gibt und die Ökologie zählt, aber das kommt viel zu spät, die Politik ist zu zögerlich, zu kompliziert», sagt Leni Robert. So hat die alte Dame der Berner Politik denn auch Verständnis für die Ungeduld der Klimajugend. Für den Frust der Jungen, weil ihre Hinweise auf die Dringlichkeit ungehört bleiben.
Leni Robert erhebt sich zum Abschied vom Stuhl. Sie ist müde vom Erinnern und Erzählen. Fühlt sie sich manchmal resigniert? «Nein, aber zu 150 Prozent desillusioniert.»
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