
Meine Mutter ging am 14. Mai vor fünf Jahren. Ich weiss nicht mehr, ob der Tag warm oder kalt gewesen ist und wie ich mich damals gefühlt hatte. Ich weiss jedoch noch ganz genau, wie ich mich in den Wochen davor gefühlt hatte, denn meine Mutter hatte ihren Tod mit Exit geplant. Einerseits finde ich es unglaublich progressiv, dass wir in der Schweiz unseren Tod selbstbestimmt planen können, ohne auf abenteuerliche Selbsttötungspraxen zurückgreifen zu müssen. Andererseits fand ich es einfach nur schrecklich, einen Termin zu erhalten, der den Tod der eigenen Mutter beschrieb und mich ab da zur Hinterbliebenen machte.
Das Schreckgespenst des Alters
Meine Mutter hatte Gründe. Plausible Gründe. Sie war alt und krank und hatte die Freude am Leben verloren. Wahrscheinlich hätte sie noch ein paar Jahre so weitergelebt. Doch das wollte sie nicht. Und dies galt es zu akzeptieren. Nach dem Abflauen des ersten Schocks nach der Hiobsbotschaft türmte sich hoch und immer höher die Frage: Wie sage ich es den Kindern?
Wie erkläre ich einem sieben- und einem neunjährigen Mädchen, dass die Grossmutter nicht mehr leben will, genug von Schmerzen und Alter hat, sich nicht mehr freut, wenn wir zu Besuch kommen, sondern nur noch weint, weil sie nicht mehr kann und nicht mehr will und sich nur noch schlecht fühlt? Wie erklärt man das Konzept von Exit zwei kleinen Mädchen, die ihre Probleme mit Gummibärchen lösen, Abmachungen mit vollgekritzelten Zettelchen beschliessen und Glück in einem Stück Pizza finden? Wie erzähle ich ihnen von Depression, von schlechter Kindheit und Dämonen, die immer wiederkehren? Wie von einem Leben im Alter, das nicht mehr lebenswert ist? Wieso musste meine Mutter für meine beiden fröhlichen Mädchen zum Schreckgespenst des Alters werden? Ich spürte Wut in mir aufsteigen.
Und dann machte ich einen Fehler. Ich beschloss, den Mädchen nichts zu sagen. Nichts von Exit und Todessehnsucht und Altersdepression. Diese Entscheidung musste wohl meinem Gefühl der totalen Überforderung entsprungen sein, denn eigentlich lüge ich meine Kinder nie an. Ich selber hatte keine Erklärung für mich und meine Gefühle, konnte diesen Freitod nicht einordnen. Das Konzept schien schlüssig, doch lief mir alles zu bürokratisch und sauber ab. Alle verhielten sich so wahnsinnig verständnisvoll und erwachsen. Wieso taten alle so, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass Mutter sagte: «Am 14. Mai sterbe ich mit Exit – wollen wir uns vorher noch sehen?» Wo waren die Emotionen? Wieso schrie niemand? Wieso brüllte niemand «Nein, kommt nicht infrage!» und versuchte, es ihr auszureden? Wieso war nur ich wütend?
Die Wut blieb und wurde grösser
In dieser Situation fehlten mir meine Kinder sehr. Wir hätten unsere Gefühle zusammen hinausgeschrien, hätten zusammen «nein» gebrüllt. Sie hätten ebenso viele Fragen gehabt wie ich und wir hätten zusammen nach Antworten suchen können. Vielleicht hätten wir diese gefunden oder wenigstens eine Geschichte, die für uns passte. Wir hätten uns gegenseitig trösten können und vielleicht hätten wir der Wut auf meine Mutter und ihre Grossmutter Raum gegeben, hätten das Fenster geöffnet und sie davonziehen lassen. So blieb die Wut bei mir und wurde grösser.
Auch mir habe ich etwas genommen, indem ich verbergen musste, was ich empfand, lächeln und lügen musste.
Ein Stück weit habe ich meinen Kindern etwas genommen, indem ich nichts gesagt habe. Ich wollte sie vor Schmerz und Unerklärlichem beschützen und habe sie damit um eine Erfahrung betrogen. Auch mir habe ich etwas genommen, indem ich verbergen musste, was ich empfand, lächeln und lügen musste vor den Kindern beim letzten Besuch der Grossmutter. Der letzte Kuchen, der letzte Kuss, das letzte Streicheln. Und die Kinder: «Mir gönd use!» Nein, bleibt hier, dies ist kostbarste Zeit, sie kommt nicht mehr zurück, nie mehr!!! Ich durfte nichts sagen und schaute stattdessen fragend zu meiner Mutter. Wie sie dastand auf dem Parkplatz vor dem Haus, gebeugt und zerbrechlich, gestützt auf den Stock mit dem fancy Design, ihre dürren, trockenen Hände mit den grossen Ringen, die feuchten Augen. «Lass sie doch gehen», sagte sie leise. «Ja, lass sie gehen», dachte ich. Eine letzte Umarmung, die nicht gelingen wollte, der Stock war im Weg. Oder war es der Tod? Und dann war sie verschwunden, zuerst im Auto, das um die Ecke bog, und dann aus meinem Leben.
Meine Kinder haben den Tod der Grossmutter so hingenommen, wie das Kinder tun. Sie weinten und tobten und schrien «warum»? Sie war doch gar nicht so alt, sie war doch eben noch hier? Und dann gingen sie spielen. Abends krochen schluchzende kleine Körperchen unter meine Bettdecke und wir weinten zusammen. Wir lagen uns in den Armen. Wir trösteten uns gegenseitig. Doch meine Wut blieb bei mir und die Fragen der Kinder unbeantwortet.
Irgendwann fragten sie nicht mehr. Irgendwann spürte ich keine Wut mehr. Irgendwann war es vorbei.
«Du gehst nie, ohne es mir zu sagen!»
Und dann habe ich meinen Kindern davon erzählt. Vom Tod der Grossmutter, von ihrem Leben und von Exit. Ich weiss nicht mehr, was der Auslöser dazu gewesen ist, die Zeit war einfach da. Meine Kinder hörten sehr interessiert zu und stellten viele Fragen zum Leben der Grossmutter und zu ihrem Tod und es war ganz einfach, darüber zu sprechen. Sie waren ein wenig böse auf mich und sagten: «Hätten wir bei ihrem letzten Besuch gewusst, was sie vorhat, hätten wir sie nicht gehen lassen. Wir hätten sie einfach im Zimmer eingesperrt.» Ich entschuldigte mich und sagte, ich sei selber so traurig gewesen und keine starke Mutter.
Meine grosse Tochter meinte: «Aber ich bin ganz stark», und meine kleine Tochter streichelte mich tröstend. Sie waren traurig, aber sie schienen es gefühlsmässig zu begreifen. «Das war wie beim Büsi», erklärte die kleine Tochter, «das blind und taub war und immer gegen die Wand gelaufen ist, weisst du noch? Dann haben wir sie eingeschläfert. So war das bei Grossmutter auch!» Wir mussten alle ein bisschen lachen, weil die Katze die Attraktion der Nachbarschaft gewesen war und alle Kinder zu Besuch kamen, um zu schauen, wie die Katze gegen die Wand lief. Und wir mussten ein bisschen weinen, wegen Grossmutter und auch wegen der Katze.
Zum Schluss schaute mich meine älteste Tochter ganz ernst an und sagte: «Aber Mami, eines musst du mir versprechen. Du gehst nie, ohne es mir zu sagen! Ich will bei dir sein bis zum Schluss.» Versprochen.
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Mamablog: Freitod der Grossmutter – Oma will nicht mehr leben
Ihren beiden kleinen Mädchen das Konzept Exit zu erklären, hat unsere Autorin total überfordert – und so machte sie einen Fehler.