Verletzte WM-Favoritin Goggia«Nach 30 Stunden habe ich keine Tränen mehr übrig»
Gold in der WM-Abfahrt schien für sie reserviert, dann verletzte sich Sofia Goggia auf einer Touristenpiste. Nun offenbart die Italienerin, wie sehr sie darunter leidet.

Manchmal, sagte Sofia Goggia am Sonntag, als sie im Zielraum der Kandahar-Piste stand, wisse sie auch nicht so recht, was sie von sich erwarten dürfe. Es sei im Grunde ja einfach: «Skifahren ist für mich ein Weg, mich auszudrücken: Ich reflektiere, was in mir vorgeht, und zeige das beim Fahren.»
Nur manchmal, da stehe sie am Start, und dann entweiche ihr im Rennen plötzlich ein Manöver, mit dem sie niemals gerechnet hätte. «Aber so bin ich», sagte Goggia, «ich bin ein bisschen wie ein verrücktes Pferd.» Man könnte auch sagen: Das ist fast noch ein bisschen untertrieben. (Lesen Sie hier das grosse Interview mit Sofia Goggia: «Ich bin die Sonne, um die alle in meinem Umfeld kreisen»)
Was hatte die 28-Jährige aus Bergamo nicht alles aufgeführt in den vergangenen Wintern: Stürze, bei denen es sie in der Luft verdrehte, sie auf den Kopf prallte, sich wieder fing und weiterfuhr; Kurvenlagen, bei denen sie mit Gesäss und Armen durch den Schnee schlingerte; Rennen, bei denen sie einen Skistock verlor und trotzdem triumphierte.
Es ist wie einst bei Bode Miller: Alle warten im Ziel darauf, was Goggia diesmal anstellt.
Allein in diesem Winter hatte sie vier von fünf Abfahrten gewonnen, immer auf der letzten Rille. Vielen fachkundigen Beobachtern kriecht da schon mal der Angstschweiss auf die Stirn, andere halten Goggias Fahrten schlicht für unverantwortlich. Die Italienerin kann darüber natürlich nur lächeln und ihr Mantra wiederholen, «so bin ich nun mal».

Es ist tatsächlich wie einst bei Bode Miller, dem alpinen Freigeist aus den USA: Alle warten im Ziel darauf, was Goggia diesmal anstellt. Welch seltsame Ironie, dass sich ihr jüngster Unfall nun nicht während einer ihrer wilden Abfahrtsritte ereignete, sondern auf einer Touristenstrecke, im Schatten der bissigen Kandahar.
Der Schneehaufen im Nebel
Die Skirennfahrerinnen waren am Sonntag auf dem Weg in ihre Hotels in Garmisch-Partenkirchen, der Super-G war nach stundenlanger Warterei abgesagt worden, über dem Skigebiet hing dichter Nebel. Goggia, so schilderte es die Zeitung «La Repubblica», sei bei der Talfahrt auf einen Schneehaufen geprallt, den sie im Nebel übersehen habe, sie habe sich mehrfach überschlagen und sogar ihren Helm verloren.
Die bittere Diagnose: ein gebrochener Schienbeinkopf und damit das vorzeitige Saisonende, eine Woche vor der Heim-WM in Cortina d'Ampezzo. Die zuletzt so erfolgreichen Italienerinnen sind schon jetzt einer ihrer grössten Hoffnungen beraubt, die WM einer ihrer grössten Attraktionen.
Am Montag meldete sich Goggia dann selbst zu Wort, mit einem emotionalen Post auf Instagram. «Nach dreissig Stunden glaube ich, dass ich keine Tränen mehr übrig habe, aber der entsetzliche Schmerz und der Kummer bleiben in mir, stark, sehr stark, zusammen mit einem Herz, das sich windet und geräuschlos schreit und brüllt», stand dort. Sie habe nach dem Missgeschick sofort gewusst, dass ihr Winter vorbei sein würde.
Zu drei Fotos von sich neben einem Fernglas schrieb Goggia noch: «Bis gestern waren die Weltmeisterschaften fest im Blick: Ich fühle mich wie erschlagen.» Nun aber wolle sie nach vorne schauen. «Dafür braucht es Mut, und jetzt gilt es, diesen zu zeigen.»
Risse, Brüche, Autounfall
Jeder Sturz, jede Auszeit hinterlässt ja Schrammen in einer Rennfahrerseele, wobei: Wenn es eine Fahrerin gibt, deren Horizont auch nach vielen Schmerzensjahren weitgehend frei von Wolken des Zweifels ist, dann ist das Goggia. Sie sei eine «Chaotin», hat sie einmal gesagt, ausgestattet mit dem Temperament eines Vulkans, und es gab eine Zeit, da fuhr sie auch so.
Sie erlitt drei Kreuzbandrisse, Frakturen am Oberschenkelkopf und Sprunggelenk, im Vorjahr stürzte sie auf der Kandahar im Super-G und brach den linken Unterarm, auch wenn das eher einer Petitesse gleichkam, wie sie zuletzt urteilte: «Das war doch nur ein gebrochener Knochen!»

Goggias Krankenakte sähe vermutlich noch wüster aus, hätte sie vor ein paar Jahren nicht ihre Mentalität geändert. «Früher habe ich es übertrieben, jetzt wandele ich an der Grenze», sagte sie damals. Sie hat bislang elf Weltcup-Rennen gewonnen – acht in der Abfahrt, drei im Super-G –, ausserdem die Abfahrtswertung 2018, WM-Bronze im Riesenslalom 2017 und Super-G 2019. Kurz darauf, im April 2019, stürzte sie mit ihrem Auto einen Hang hinab, landete auf einem geparkten Wagen – und blieb unverletzt.
Ihr grösster Erfolg war bislang der Olympiasieg 2018 in der Abfahrt, Lindsey Vonn rief die Italienerin damals noch an Ort und Stelle zu ihrer Nachfolgerin aus, in jeder Hinsicht: Goggia sei verrückt, sagte Vonn, «wie ich».
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