«Milk me!»
Es war einmal ein schwuler Superheld – und dieser Harvey Milk wird von Sean Penn gespielt. Er war kein Held mit extravagantem Lebensstil und Luxusbody. Er trug unmodische Anzüge und besass das Durchhaltevermögen eines Ausserirdischen. Tom Kummer über den Siegeszug der Schwulenkultur und das Vermächtnis des 1978 ermordeten Politikers.
Ein erotisches Netz liegt über der Welt. Es ist geknüpft von jungen Männern, die schön und stark sind. Es ist ein Netz, das mittlerweile jeden Menschen gefangen nimmt – egal ob alt oder jung, schwul oder hetero, schwarz oder weiss. Wir alle leben in diesem Netz, ohne es vielleicht zu wissen. Es verleiht uns die Kraft, neue Grenzen auszutesten. Es zeigt uns, dass alles Private politisch ist: der Körper, die Sexualität, die Mode. Dieses Netz vertritt unsere politische Haltung besser als jede politische Partei. Es saugt uns aus und adelt gleichzeitig. Schwule Kultur hat die globale Ordnung verschoben, ohne dass die Realpolitik darauf Zugriff hätte. Eine neue Welt ist dabei entstanden: mit so vielen stolzen Körpern. So vielen netten Partys. So vielen Männerküssen auf offener Strasse. Und den immer wiederkehrenden Klischees: Schwule tanzen besser, tragen die aufregendere Mode, kennen die interessanteren Frauen. Könnte es vielleicht sein, dass der Wandel zur globalen Macht der Schwulenkultur nicht 1978 mit der Ermordung von Harvey Milk begann, dem ersten schwulen Stadtabgeordneten in San Francisco, sondern Mitte der 1980er-Jahre? Damals begann sich eine neue Generation von emanzipierungswilligen Heteros zu fragen: «Verdammt, was haben die Schwulen eigentlich, was wir nicht haben? Und was muss ich tun, damit ich es auch habe, ohne gleich schwul zu werden?»Zwanzig Jahre später haben «es» fast alle. Aber was ist es? Der heterosexuelle Mann legte plötzlich, so schien es, keinen Wert mehr auf Kategorisierung in ein maskulines Rollenbild. Der Begriff Metrosexuelle wurde geboren – natürlich auch als Instrument der Marketing-Propaganda. Klar war bloss, dass diese markanten gesellschaftlichen Verschiebungen die Folge waren eines Geflechts von schwuler Weltkultur, die sich im Mainstream durchgesetzt hat. «Daddy, you're so GAY»Jetzt kommt er aber doch ins Kino, der neueste amerikanische Hero, «Milk» ist Hollywoods bester Bildungsfilm in Sachen Schwulenbewegung; und dieser Film muss ein Schock sein für alle jene Heteros, die dachten, wie leicht es doch heute sei, ein bisschen auf Subkultur zu machen, fremde Lebensstile zu adaptieren und dafür keinen Preis zu bezahlen. Und der Film ist ein Schock für all jene, die noch nie von Harvey Milk gehört haben, jedoch ständig mit Schwulenkultur kokettieren. Ja, es gab einmal einen schwulen Superhelden – und er wird im Kino von Sean Penn gespielt. Milk war kein Held mit extravagantem Lebensstil oder braun gebranntem Hardbody. Er war vielmehr ein schwuler Realpolitiker, der unmodische Anzüge trug und nebenbei das Durchhaltevermögen eines Ausserirdischen besass. Milk wurde einer der populärsten Politiker San Franciscos – bis sich sein Gegenspieler an ihm und dem damaligen Bürgermeister George Moscone grausam rächte. Den Siegeszug der Schwulenbewegung löste aber die Ermordung von Milk nicht aus; erst rund zehn Jahre später rollte in den verschwenderischen 1980er-Jahren eine gewaltige, von Überfluss und Konsumbesessenheit entfesselte Lifestyle-Revolution über die westliche Welt. Dabei passierte Erstaunliches: Die Schwulenbewegung in den Grossstädten verlor zunehmend an politischem Gewicht, während sich die heterosexuelle Masse immer dramatischer erneuerte, aufgestylt, aufgegeilt, aufgeliftet und bereit für jeden Partyspass – mehr, als es einem klassischen Schwulenbewegten womöglich lieb war. Sogar unsere Kinder waren plötzlich von der Vermassung der Schwulenkultur betroffen. «Hey Daddy», sagte mein zehnjähriger Sohn kürzlich beim Frühstück: «You're so GAY.» Und wir lachten alle. Weil es als Kompliment gemeint war. Und weil wir Heteros längst das Klischee «schwul» liebevoll umarmen, denn jeder weiss, wie wahr und zugleich falsch Klischees sind. Aus den Lautsprechern lief an jenem Morgen «Being Boring» von den Pet Shop Boys, am Boden lag Truman Capotes «Die Grasharfe» und vor mir eine Zeitung mit der euphorischen Filmkritik zum Biopic «Milk» von Regisseur Gus Van Sant. Ich trug an jenem überbelichteten kalifornischen Morgen, als mich mein Zehnjähriger zum coolen Schwulen erklärte, Calvin-Klein-Unterhosen, darüber eine deutsche Bundeswehr-Hose, Caterpillar-Arbeitsschuhe, ein zerrissenes John-Smedley-Polohemd, und ich roch nach Antaeus von Chanel – alles etabliertes Zubehör eines einst exklusiven schwulen Kosmos. Lebenskunde mit EgbertVor vielen Jahren hatte ich die wichtigen Dinge im Leben von meinem schwulen Freund Egbert gelernt. Ich war 18-jährig, als ich Berlin zum ersten Mal besuchte, Harvey Milk war bereits vier Jahre tot, Berlin galt als «Gay Capital of Europe». Ich begegnete dort diesem schwulen deutschen Schriftsteller, der mir die Welt neu erklärte. Er erklärte mir so Wahnsinnsbegriffe wie «camp». (Der von Susan Sontag 1964 eingeführte Begriff meinte die gebrochene Wahrnehmung der Aussenwelt, wie sie nur von Minderheiten empfunden werden kann.) Egbert nahm mich ins Kino mit, wo er mir seine Lieblingsfilme vorstellte: zum Beispiel Fassbinders «Die Sehnsucht der Veronika Voss», «Barbarella» von Roger Vadim, «Jules und Jim» von Truffaut, die Pornofilme von Jean-Daniel Cadinot. Und er erzählte mir von einem Dokumentarfilm, an dem er mit seinem Freund Rob Epstein in San Francisco gerade arbeiten würde: «The Times of Harvey Milk», der später den Oscar für den besten Dokumentarfilm 1985 gewann. Er erklärte mir, wieso Milks politische Karriere nur in San Francisco (im Stadtteil Castro) möglich sein konnte und wieso dies wiederum sehr viel mit protestierenden Heteros (Hippies und radikalen Linken) zu tun hatte, die sich bereits zehn Jahre früher ihre Stadtteiloase im Distrikt Haight-Ashbury geschaffen hatten. Egbert erzählte von Milk als seinem «Che Guevara», als dem Helden der Westcoast-Schwulenbewegung. So wie die Stonewall-Riots von New York entscheidend waren für das Gay Pride Movement an der Ostküste, an das noch heute alljährlich zum Christopher Street Day gedacht wird. Stonewall: Das ist eine Serie von gewalttätigen Konflikten zwischen Homos und Polizeibeamten in New York am 28. Juni 1969. Der Tag gilt als Wendepunkt im Kampf der Schwulenbewegung für Gleichbehandlung und Anerkennung. Davon erzählte mir Egbert. Und er erzählte mir, wie sich in den 60er-Jahren ein starker linker Flügel in der sogenannten Mattachine Society entwickelte, gegründet von Harry Hay, dem ersten amerikanischen Schwulenführer. Nach den Stonewall-Riots von 1969 formierte Hay die radikale «Gay Liberation Front». Stonewall und die 68er-Revolte weckten im jungen Harvey Milk einen Wunsch: die Teilhabe an der politischen Macht. Er begriff, dass er für Schwule eine bessere realpolitische Perspektive schaffen musste. Die Gay Liberation Front scheiterte gerade wegen ihrer radikalen Weigerung, an die moralischen Vorstellungen der Mehrheit irgendwelche Konzessionen zu machen. Utopie und politischer RealismusHarvey Milk dagegen suchte weiter nach Inhalten, nicht nach Form. Er war Politiker und auf den Konsens angewiesen. Für ihn galt eher die Vorstellung, gemeinsam mit Verbündeten ins Zentrum der feindlichen Machtstruktur vorzustossen. Mit Schwarzen, Latinos oder Vertretern der Anti-Vietnam-Bewegung. Milk schlug auch Brücken zur Frauenbewegung. Aufgewachsen in einem jüdischen Mittelstandsmilieu von New York, bekannte sich Harvey Milk von Anfang an zu seiner Homosexualität. Nach einer wechselvollen Karriere – Offizier bei der Navy, Börsenmakler an der Wall-Street, Hippie und Anti-Vietnam-Demonstrant – zog er in den frühen 70er-Jahren nach San Francisco. Dort eröffnete er ein Fotogeschäft im damals noch verschlafenen Castro-Distrikt. Er begann für politische Ämter zu kandidieren. Im vierten Anlauf gelang ihm 1977 der Sprung auf den Stuhl des Supervisors im Wahlbezirk 5. Die Schwulen und andere Minderheiten hatten endlich einen gewählten Vertreter ihrer Interessen. Sein Fotoladen war zum Mittelpunkt der Schwulenbewegung geworden. Der Castro-Distrikt unter Milk avancierte zu einem Ort, der immer mehr junge und alte Schwule anregte, ihr Anderssein zu bekennen, sich ohne Komplexe und Ängste auszuleben. Was für eine fantastische Geschichte! Milks politischer Realismus brachte eine Lawine ins Rollen, er verhinderte ultrakonservative Gesetzesentwürfe, die etwa Schwulen verbieten sollten, als Lehrer in staatlichen Schulen zu unterrichten. Anfang November 1978 votierten immerhin 60 Prozent der kalifornischen Wähler bei einem Volksentscheid gegen dieses Berufsverbot. Ein grandioser Erfolg, der Milks Rolle als einer der populärsten Politiker San Franciscos unterstrich. Bis sich sein Gegenspieler, Dan White, der seine Niederlage nie überwand, an Milk und dem damaligen Bürgermeister Moscone rächte. «Wo ist mein Traumprinz?»So hörte ich also von Egbert zum ersten Mal von Harvey Milk, und die Geschichte klang so spannend wie die von Che Guevara. Doch was mich plötzlich an Egberts «Wissen» viel mehr interessierte als die Story um Milk: Er erzählte mir, wieso ein Intellektueller mindestens zweimal pro Woche ins Fitnessstudio gehen, mindestens einmal pro Woche auf die Sonnenbank liegen und täglich Parfüms wie Chanels Antaeus oder Versus von Versace aufsprühen muss. Egbert redete auch von Leder, Fummel oder Cruising, von Ru Paul, Jimmy Somerville, Morrisey, Marky Mark, und er benutzte einige der neurotischen Klischeesätze unter Schwulen: 1. «Keiner will mich.» 2. «Alle Schwulen sind langweilig, alle Hetero-Männer sind geil.» 3. «Wo ist mein Traumprinz?» 4. «Ich will nicht alt und hässlich werden.» Von Politik war damals nie die Rede. Auch nicht von Gewalt gegen Schwule oder von Berufsverboten. Auch nicht von Morddrohungen oder dem Albtraum, dass im November 2008 die Annahme des Verfassungszusatzes «Proposition 8» durch die kalifornischen Stimmbürger die Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren in der Staatsverfassung wieder verbieten würde (nachdem ein halbes Jahr zuvor das Oberste Gericht des Staates Kalifornien «gay marriage» erlaubt hatte).«More happy people!»Die Ermordung von Milk hatte die amerikanische Schwulenbewegung in einen Schockzustand versetzt. In Europa dagegen brach Ende der 1980er-Jahre das Zeitalter eines neuen schwulen und lesbischen Selbstverständnisses an; der politische Einfluss nahm zu, wenn auch meistens bloss ausserparlamentarisch. Ich berichtete als Reporter von der Gründertagung der britischen Schwulenorganisation Outrage im Mai 1990, einer Aktionsgruppe, die sich für die Rechte homosexueller, bisexueller und transsexueller Männer und Frauen einsetzte. Feiern und Abtanzen war nicht mehr unpolitisch. Man trug auch Protestfahnen, auf denen bloss stand: «I want to see more happy people». Schwule und Lesben liessen sich längst nicht mehr kategorisieren. Sie identifizierten sich nicht mehr, wie am Anfang der Schwulenbewegung, nur über ihre Sexualität, sondern lebten sie ganz einfach. Und plötzlich nun also dieses phänomenale Filmereignis aus Hollywood, über dem ein beinahe mystischer Sean Penn thront, der hier den endgültigen Beweis dafür liefert, dass er einer der grössten Künstler unserer Zeit ist. «Milk» ist ein Film, der einen auf dem falschen Fuss erwischt. Besonders jene, die den radikalen politischen Aufbruch der Schwulenbewegung entweder längst vergessen oder noch nie davon gehört haben. Der Film ist ein Phänomen, weil es eben auch heute noch in den USA empörende Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu bekämpfen gibt. Und es herrscht dort – ganz anders als in Europa – noch immer Kampfbereitschaft. Auch weil die Akzeptanz schwuler Lebenskultur in der amerikanischen Gesellschaft ausserhalb von San Francisco und New York weit hinter der europäischen herhinkt. San Francisco war immer auch ein Werbespot für die Schwulenbewegung. Dass dreissig Meilen östlich von Frisco schwule Kids mit Stöcken halb totgeschlagen werden, darüber ist nicht so viel bekannt. So gesehen ist die Annahme der Proposition 8 am 9. November 2008 durch die kalifornischen Stimmbürger ein schrecklicher Rückschlag. Er zeigt, wie sehr die politische Realität der Schwulenbewegung in den USA hinter dem Erfolg des schwulen Lifestyles zurückbleibt. «Schluss mit lustig, Leute!» Trotzdem gilt die Schwulenbewegung in San Francisco noch heute als Avantgarde. Dort sind die Leute ungeheuer aktiv. Es gibt alternative Familienstrukturen von Schwulen und Lesben, eine Internet-Bewegung, die Menschen aller Neigungen zusammenbringt, oder Hermaphroditen, die sich zusammenschliessen. In Europa scheint dagegen schwulenpolitisch nicht mehr viel zu laufen – vielleicht auch wegen der Beamten-Strukturen, die die Szene erlahmen lassen. Ganz anders die Szene in San Francisco. Schwule organisieren Kämpfe, die für alle wichtig sind. Sie organisieren den Boykott von Firmen, die als schwulenfeindlich gelten, und planen grosse Aids-Benefizgalas. Es gibt Queer-Nation-Bündnisse gegen die Macht der Pharmakonzerne, gegen Rassismus und für eine neue Ausländerpolitik. Bündnisse für Hybrid-Autos, gegen Gewalt in der Familie, gegen soziale Ungerechtigkeit, Fremdenhass und religiös gesteuerte Unternehmen. Das sind die neuen Ziele einer «schönen schwulen Welt», die nicht bloss von Abtanzen oder metrosexueller Bewunderung lebt, sondern sich auch mit politischen Aktionen engagiert – es ist die Welt des Harvey Milk. Und für einen Moment sollte allen Besuchern im Kino klar werden: «Schluss mit lustig, Leute. Schluss mit gepiercten Männerbrüsten, Sixpack-Unterleibern, Dirty Sex und Rave-Apokalypse, teuren Klamotten und Cool Water auf Schamhaaren. Oder seid ihr bereit, für euren Lifestyle mit dem Leben zu bezahlen?» «Milk» läuft ab dem 19. Februar im Kino.>
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