
In Cape Canaveral sollte am Montag die Raummission Artemis I beginnen. Doch der Start der amerikanischen Mondrakete musste wegen Triebwerksproblemen verschoben werden. Etwa 8000 Kilometer östlich, in Prag, hielt ungefähr zur gleichen Zeit Bundeskanzler Olaf Scholz eine Rede. Auf den ersten Blick mag das eine mit dem anderen nichts zu tun gehabt haben, doch es gibt ein verbindendes Element: Europa.
In Florida war Europa insofern präsent, als dass die Europäische Raumfahrtbehörde (ESA) an der Artemis-Mission beteiligt ist. An der Spitze der Rakete ist deswegen das schwarze ESA-Logo zu sehen, gleich unter dem blau-roten Abzeichen der Nasa.

In Prag war Europa präsent, weil Scholz dort an der Karls-Universität darüber sprach, wie er sich die Zukunft der EU vorstellt. Scholz mahnte Reformen an. Unter anderem forderte er, dass die EU künftig mehr Entscheidungen per Mehrheit treffen können sollte, statt in den wichtigen Fragen immer Einstimmigkeit erreichen zu müssen.
Das ist nicht falsch, aber auch nicht neu. Und der Kanzler hätte seinem Vorschlag womöglich noch mehr Nachdruck verleihen können, wenn er gesagt hätte, bei welcher Entscheidung seine Bundesregierung bereit wäre, sich von den anderen EU-Mitgliedern überstimmen zu lassen. In der Vergangenheit war es ja nicht selten Deutschland selbst, das in Streitfällen so getan hat, als sei seine Linie die einzig mögliche für Europa.
Eine ganz andere Sache ist, ob die Rakete oder die Rede etwas mit den Problemen zu tun haben, die derzeit die meisten europäischen Bürger plagen. Gewiss – dass die ESA bei Artemis mitmacht, wurde vor Jahren entschieden. Dennoch kann man fragen, ob Europa tatsächlich dazu da ist, zum Mond zu fliegen, wenn unten auf der Erde Europäer nicht wissen, wie sie die Stromrechnung bezahlen sollen.
«Scholz sagte viel Richtiges. Doch blieb der Eindruck, der Kanzler habe etwas vorgetragen, das von Bürokraten in Berlin für Bürokraten in anderen Hauptstädten geschrieben worden ist.»
Ähnliches gilt für Scholz’ Rede. Der Kanzler sagte viel Richtiges. Es war eine Grundsatzrede, und deswegen war sie zwangsläufig des Alltags-Klein-Kleins enthoben. Doch blieb der Eindruck, der Kanzler habe etwas vorgetragen, das von Bürokraten in Berlin für Bürokraten in anderen Hauptstädten geschrieben worden ist. Das kann man in ruhigen Zeiten machen. Doch die Zeiten sind nicht ruhig. Die Menschen in Europa kämpfen im Moment mit geradezu existenziellen Problemen. Der Krieg in der Ukraine hat die europäische Energie- und Sicherheitsstrategie, für die Deutschland massgeblich Verantwortung trägt, als Schönwetterveranstaltung entlarvt.
Scholz ging über diese gravierenden Fehler ebenso nonchalant hinweg wie über die Nöte und Ängste der Bürger, die heute die Folgen davon sind. Stattdessen referierte er über die Zahl der EU-Parlamentarier und der Kommissarinnen und Kommissare. Etwas mehr Bodenhaftung, etwas mehr Bewusstsein für den dramatischen Ernst der Lage hätten der Rede gutgetan.
Das, was heute die EU ist, daran erinnerte Scholz zu Recht, wurde einst gegründet, um Europas Bürger davor zu schützen, von ihren Nachbarn umgebracht zu werden. Die Kernaufgabe der Union ist es, den Menschen ein Leben in Sicherheit zu garantieren. Von Portugal bis Polen ist die Kriegsgefahr zwar zum Glück gebannt, aber das heisst ganz offensichtlich nicht, dass es nicht andere Bedrohungen gibt, die kaum weniger akut sind. Einen Blechkasten der ESA zum Mond zu transportieren, hilft bei deren Bewältigung nicht. Und vielleicht hätte auch Olaf Scholz in Prag mehr Konkretes zu Europas unschöner Gegenwart sagen sollen als Vages und Wohlfeiles zu Europas Zukunft.
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Kommentar zu Scholz’ Europa-Rede – Mehr Bodenhaftung, bitte!
In Prag referierte der deutsche Bundeskanzler wolkig über die Zukunft der EU. Vielleicht sollte die Politik beginnen, sich energischer um die Probleme der Gegenwart zu kümmern.