Lang hat es nicht gedauert, bis Kabinettsmitglieder und Tory-Hinterbänkler gegen Theresa Mays Deal mit der EU aufbegehrten. Der Rücktritt ihres Brexit-Ministers am Donnerstagmorgen war ein Paukenschlag. Denn erst vor wenigen Monaten hatte May mit David Davis den Minister verloren, der Londons Verhandlungen mit Brüssel ursprünglich führte. Nun ist mit Dominic Raab die zentrale Figur des Kabinetts gegangen, die die just in Brüssel erzielte Vereinbarung der Nation und dem Parlament «verkaufen» sollte. Viel Glaubwürdigkeit bleibt da nicht für Mays Brexit-Politik.
Andere Regierungsmitglieder haben auch schon ihren Rücktritt eingereicht. Weitere dürften folgen. May klammerte sich am Donnerstag verzweifelt an ihren Job und versuchte Kurs zu halten. Im Unterhaus verteidigte sie «ihren» Deal. Dabei wurde aber immer deutlicher, dass sie in Westminster keine Mehrheit mehr für diese Vereinbarung erwarten kann. Der Widerstand wächst auf allen Seiten. Und Nordirlands Unionisten drohen ihr alle Unterstützung zu entziehen – was sie zur Chefin einer Minderheitsregierung machen würde.
Erstaunlich ist, wie beharrlich sich May zwei Jahre lang gehalten hat als Partei- und Regierungschefin. Auch ihre Gegner zollen ihr dafür Respekt. Oft genug ist sie – die «Brexit-Premierministerin» – abgeschrieben worden. Als sie voriges Jahr ihre absolute Mehrheit einbüsste bei gänzlich unnötigen Wahlen, waren sich die meisten Beobachter sicher, dass sie aufgeben müsse. Dass ihre Zeit abgelaufen sei.
Eine «Umarmung» durch die EU
Aber jedes Mal, auch nach den vielen Schlappen in Brüssel, rappelte sie sich wieder auf. Selbst aus dem dramatischen Ringen mit ihrem Kabinett diese Woche glaubte sie als Siegerin hervorgegangen zu sein. Die EU gratulierte ihr zu ihrem Erfolg – bevor Michel Barnier am Donnerstag seufzte, es liege noch «eine lange Wegstrecke» vor allen Beteiligten. May hatte offenbar gehofft, dass sich proeuropäische Tories und Labour-Leute vor einer No-Deal-Situation so sehr fürchten würden, dass sie sich hinter sie stellen. Und die Brexit-Hardliner, kalkulierte sie weiter, würden dem Deal zustimmen aus Angst davor, dass der Brexit-Beschluss durch eine neue Volksabstimmung rückgängig gemacht werden könnte.
Aber das Kalkül ging nicht auf. Trotz Mays forscher Pro-Brexit-Rhetorik und rasch gezogener roter Linien haben ihr die EU-Hasser in ihrer Partei nie getraut. Den Deal halten sie nun für einen Schwindel. Für sie ist der Brexit, den May im Sinn hat, gar kein richtiger Brexit. Sie können nicht fassen, dass ihr Referendumstriumph von 2016 in einer verhängnisvollen «Umarmung» durch die EU enden soll.
Umgekehrt sehen die meisten Proeuropäer im Parlament keinerlei Vorteil in einem Austritt aus der EU unter den gegenwärtigen Umständen. Das von May mit erstellte komplizierte Vertragskonstrukt würde im Urteil dieser Kritiker London allen Einflusses in Europa berauben, dem Land gewaltige neue Kosten aufbürden und zu langjähriger Ungewissheit führen.
Nichts ist mehr sicher
May ist es so gelungen, die beiden verfeindeten Seiten im Brexit-Streit zu vereinen – im Protest gegen sich selbst. Damit hat das Brexit-Drama einen Punkt erreicht, an dem das ganze Kartenhaus einzustürzen droht, das May mühsam errichtete. Nur die wenigsten ihrer Abgeordneten sprangen ihr im Parlament noch bei. Auf den Oppositionsbänken forderte ein Sprecher nach dem anderen, unbekümmert angesichts der Vorbehalte des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, ein neues Referendum. Auch wenn es nicht leicht sein dürfte, ein solches einzufädeln: Beim Brexit öffnen sich neue Türen.
Im Grunde kommt die britische Politik jetzt in eine Phase, in der alles möglich wird – ein Kollaps der Verhandlungen, Neuwahlen, eine zweite Volksabstimmung. Die Tory-Hardliner beabsichtigen, einen Misstrauensantrag in der Fraktion gegen die Parteichefin einzubringen. Bisher hatte man geglaubt, dass sich Theresa May bei einer solchen Abstimmung gegen die Parteirechte behaupten würde. Jetzt ist nicht mal das mehr sicher. Alles ist im Fluss.
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Mays Kalkül geht nicht mehr auf
Die britische Premierministerin versucht, ihren Brexit-Kurs zu halten. Für die getroffene Vereinbarung dürfte sie im Parlament jedoch keine Mehrheit erhalten.