Landesausstellung: Vom Erdboden verschluckt
Heute Nacht fahren die ersten Autos durch den Neufeldtunnel in Bern. Er wurde dort gegraben, wo vor bald hundert Jahren eine ganze Stadt stand: die Schweizerische Landesausstellung 1914. Ein Fest der «Arbeitsamen und Tüchtigen» – und mittendrin bricht der Erste Weltkrieg aus.
Über dem Haupteingang des alten Enge-Schulhauses an der Studerstrasse hängt Heinrich Pestalozzis Kopf. Versonnen blickt er ins Weite, im Halbrelief in Stein gehauen. Am rechten Rand seines Blickfelds, zum Bremgartenwald hin, liegen Schrebergärten, in denen etliche italienische Fahnen flattern. Am linken Rand: die Allee der Engestrasse. Geradeaus im Vordergrund wogt reifer Weizen. Dahinter die Silhouette des Hochhauses des Burgerheims im Gegenlicht. Und dazwischen zwanzig Hektaren unverbautes Stadtgebiet namens Viererfeld.
Bis vor Kurzem hatte Pestalozzi das Burgerheim kaum mehr gesehen. Damals türmte sich der Aushub des Neufeldtunnelbaus dutzendmeterhoch auf dem Feld. Jetzt, im Juli 2009, kurz vor der Eröffnung des Tunnels, ist der Blick wieder frei, die Aushubberge sind weitgehend planiert. Da und dort eine verlorene Baggerschaufel auf einem Kieshügel, die Barackenstadt der Bauleute noch nicht abgeräumt, aber kurz davor. Mitte August beginnt 18 Meter unter der Erde der Verkehr durch die Röhre zu fliessen. Dann wird nur noch die breite Schneise im Bremgartenwald und im Baumbestand der Engehalde daran erinnern, dass hier in den letzten drei Jahren über 400000 Kubikmeter Erde bewegt und 18000 Kubikmeter Beton vergossen wurden. So wird das Viererfeld wieder in seinen stadtrandständigen Dornröschenschlaf versinken. Und das schon zum zweiten Mal.
Bis zum Mai 1914 hat Pestalozzi ungerührt verfolgt, wie sich das Viererfeld von einem stillen Acker in eine regelrechte Stadt verwandelt hat, mit grossen Gebäudekomplexen, auf Symmetrie bedachten Ziergärten, breiten Chausseen zum Flanieren und eigener Tramlinie. Pestalozzi schaut quer darüber hinweg zum Studerstein. Vor den alten Bäumen, die dem Gedenkstein für den Berner Alpenforscher Gottlieb Studer Schatten spenden, steht seit Kurzem ein riesiges Haus mit zwei Türmen.
Auf der freien Höhe des Bremgartenwaldes, breit vor die Laubwogen der silberweissen Buchenstämme hingelagert, lässt in diesem Sommer die Schweizerische Landesausstellung unaufhaltsam ihre Kräfte und Wunder spielen. Wir wählen Tram Nr. 8, lassen die Stadt bald hinter uns und fahren in eiligem Tempo den Engerain hinan. Durch prächtige Alleen führt unser Weg. Unmittelbar vor dem Eingang rechts von der Neubrückstrasse hält die Elektrische an.
So geleitet uns der offizielle Ausstellungsführer zur Expo von 1914. Wir passieren das Eingangstor und halten auf ein Gebäude mit halbrunder Fassade und zwei beflaggten Türmen zu: Für ein halbes Jahr bleibt der Studerstein verborgen hinter einem Restaurant gleichen Namens, dessen Säle und Terrassen über zweitausend Gästen Platz bieten. Wir lassen uns mit dem Aufzug zu einer der Turmspitzen hochfahren und blicken ins Rund: Wo vor Kurzem noch grüne Wiese war, erstrecken sich auf dem Neu-, dem Vierer- und dem dazwischen gelegenen Mittelfeld 550000 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit Dutzenden Hallen und Pavillons, in denen an die 9000 Aussteller ihre Waren feilbieten.
In der ersten Ausgabe des offiziellen, täglich erscheinenden «Ausstellungs-Anzeigers» ist die Rede von einem «freundschaftlichen Stelldichein der Arbeitsamen und Tüchtigen». Die Formulierung hat sich ein junger, bereits recht erfolgreicher Autor ausgedacht, der seit zwei Jahren in Bern ansässig ist. Hermann Hesse heisst er, und in seinem Geleitwort hält er ausserdem fest, die Landesausstellung entspringe dem «Wunsch, die Gesamtheit der Leistungen aller Stände und Erwerbsarten in möglichster Anschaulichkeit und Uebersichtlichkeit vorzuführen».
Wir schauen übers Neufeld, ahnen Bümpliz hinter dem Bremgartenwald. Zu unseren Füssen liegt die Moderne, das Industrie- und Dienstleistungszeitalter. Dort, wo später Stadion und Gymnasium stehen werden, thront jetzt die Eisenkonstruktion einer Maschinenhalle. Es sei eine der grössten Europas, rühmen die Ausstellungsmacher. Den offiziellen Führer inspiriert dieser Tempel industrieller Geschäftigkeit zu Gebrauchslyrik in Frakturschrift:
In selbstsicherer Ruhe drehen sich die Räder der in Betrieb befindlichen Kolosse; auf und ab, hin und her, laufen beinahe lautlos die Kolben und Gestänge, automatisch gibt eine Ventilmaschine den Takt dazu. Es ist eine «zwangsläufige» Poesie, die Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts, deren eherne Lieder sich in den starren Eisenpanzern entringen.
In entgegengesetzter Richtung, auf dem Viererfeld, gilt noch die agrarische Prosa des 19. Jahrhunderts. Hier geben sich Milch-, Wein-, Obst- und sonstige Bauern, zudem Käser und Fischer und Imker und Förster und Jäger ihr «freundschaftliches Stelldichein». Der ausfaltbare «Monumentalplan» des Ausstellungsführers verspricht hinter den Landwirtschaftspavillons noch weitere Attraktionen. Wir nehmen den Aufzug nach unten, steigen ins Tram und fahren übers Viererfeld Richtung Enge-Schulhaus. Pestalozzi sieht uns kommen.
An seinem rechten Blickrand steht jetzt das «Dörfli» des Berner Architekten Hans Indermühle. Auch hier wirkt die Prosa des 19. Jahrhunderts. Die Kirche ist mitten im Dorf und ein guteidgenössischer Kompromiss: katholisch mit einem protestantischen Seitenschiff. Weitere Konfessionen sind 1914 noch nicht vorgesehen.
Die Dorfbeiz heisst «Röseligarten» und wird vom eben erst gegründeten Heimatschutz betrieben. Im «Säli» im oberen Stock wird Theater gespielt, Heimatschutztheater. Oberheimatschützer Otto von Greyerz (ja, der mit den Röseligarten-Liedern) und seine Getreuen, entsetzt über die «erschröckliche» Qualität des auf Liebhaberbühnen landauf, landab Gebotenen, wollen hier demonstrieren, was Volkstheater mit Niveau ist. Da wird «Der Chlupf», ein dreiaktiges Lustspiel von Otto von Greyerz persönlich, gegeben. Oder «Spinnet im Lischebedli», «es artigs Schangrebild für ufzfüehre» von Ernst Müller.
Doch ach! Das Volk strebt lieber zum billigen Vergnügen, etwa zur «Szeneriebahn». Diese sieht aus wie eine zu gross geratene Modellbahnanlage in alpinem Dekor und ist im Wesentlichen eine Achterbahn, auf der man aus 25 Metern Höhe hinab und hinauf, hin und her und wieder hinab bis auf Viererfeld-Niveau saust. Der «Bund», auf einer Linie mit von Greyerz, tituliert die Bahn schon vor der Ausstellung als «Monstrum an Ungeschmack», als «Konzession an die schlechtesten Instinkte, ein Stück Schund, wie es ärger nicht gedacht werden kann».
Geradeaus fällt Pestalozzis Blick auf das satte Grün des Sportplatzes der Landesausstellung, und sein Ausguck kann es ohne Weiteres aufnehmen mit den besten Tribünenplätzen. 15000 Zuschauer fasst der Platz, dieses «Wahrzeichen der Moderne», so die NZZ damals. Das Programm ist vielfältig. Auf der einen Seite urchig und bodenständig, eingebettet zwischen Landwirtschaftspavillons und «Dörfli»: das Mittelländische und das Eidgenössische Schwingfest. Auf der anderen Seite zum Beispiel die noch junge Trendsportart Fussball. Es gibt ein Länderspiel zwischen der Schweiz und Italien (1:0 für Italien), doch Aufsehen erregt vor allem das «Wettspiel» zwischen einer Deutsch- und einer Westschweizer Auswahl – die Deutschschweizer verlieren es mit 0:6.
Der Fussballtriumph muss für die Romands eine Genugtuung sein, nach allem, was ihnen an der Landesausstellung zugemutet wird. Da ist die französischsprachige Beschilderung des Geländes, die erst nach Protesten und nachträglich angebracht wird. Dann dieses Ausstellungsplakat mit dem grün gefleckten Pferd von Emil Cardinaux, das als «Spinatross» oder «Bohnenross» für viel Hohn und Spott gesorgt hat. Es befremdet die Romands derart, dass in der Westschweiz ein alternatives Plakat mit einem neutraleren Berner-Alpen-Motiv ausgehängt werden muss. Und dann auch die dominante Ausstellungsarchitektur im nüchternen «style de Munich», die so gar nicht zum verspielten Architekturgeschmack in der französischen Schweiz passen will. All das – angeheizt durch die politischen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich – trägt dazu bei, dass der Röstigraben an der Landesausstellung eher vertieft wird.
Und dann platzt mitten in die Ausstellung der Krieg. Während man in der Schweiz mit dem Röstigraben beschäftigt ist, werden im umliegenden Europa die Schützengräben ausgehoben, in denen bis 1918 Millionen Soldaten den Tod finden.
Am 1. August 1914 mobilisiert die Schweiz 220000 Mann. Tags darauf ersetzt das Landwehrbataillon 135 den zivilen Sicherheitsdienst : Die Besucher werden informiert, dass ab acht Uhr abends Uniformierte mit scharfer Munition die Hallen bewachen. Die Aussteller drängen die Organisatoren, ihre Ware abziehen zu dürfen. Man einigt sich jedoch auf «business as usual» und beschliesst, die Ausstellung weiterlaufen zu lassen. Die rekordverdächtigen Besuchermengen brechen allerdings ein. Hatten sich bis Ende Juli wochentags 20000 bis 25000, an den Wochenenden bis 60000 Schaulustige auf dem Gelände getummelt, ist es im August nur noch ein Viertel bis ein Fünftel davon. Erst gegen Ende ziehen die Eintrittszahlen wieder an, sodass die Ausstellung sogar noch um zwei Wochen verlängert wird.
Während ein paar Hundert Kilometer nördlich die erste Flandernschlacht tobt, bei der über 100000 Soldaten fallen, schliesst am 2. November die Schweizerische Landesausstellung in Bern ihre Tore. Die euphorische Bilanz der NZZ streift den «Sturm, der über den Erdball tobt», nur kurz und lässt das Stelldichein der Arbeitsamen und Tüchtigen in einer prospektiven Idylle ausklingen:
Wenn der Frühling wieder ins Land ziehen wird, wird, was die Menschenhand droben am Saum des Bremgartenwaldes zu einem farbenfrohen Ganzen zusammengestellt, vom Erdboden wieder verschwunden sein, und der Pflug wird über das weite Feld hinziehen.
Fast genau so ist es dann auch passiert.
15. August 2009. Der gigantische Graben quer durchs Viererfeld ist zugeschüttet. Das Maul des Tunnels an der Tiefenaustrasse spuckt und verschluckt ab heute Nacht den motorisierten Verkehr. Hunderttausende Kubikmeter Erde wurden in den letzten drei Jahren umgewälzt. Reste der Stadt auf Zeit, die hier vor bald hundert Jahren stand, haben sie keine preisgegeben.
Die Landesausstellung ist spurlos verschwunden. Nur einzelne kleinere Bauten wurden abgetragen und andernorts wieder aufgebaut, so ein Chalet und ein Modell-Einfamilienhaus in Zollikofen. Wer etwas Landi-Atmosphäre schnuppern will, hält sich jedoch am besten an die Berner Schwarztorstrasse. Dort stehen gleich zwei Brunnen, die für die Landesausstellung gebaut wurden: zum einen der Flora-Brunnen im gleichnamigen Park an der Ecke Sulgeneckstrasse, zum anderen der Hospes-Brunnen an der Kreuzung Belpstrasse. Beide plätscherten 1914 in unmittelbarer Nachbarschaft; der eine vor dem Restaurant Studerstein, der andere vor dem Hospes-Gebäude, einem Musterhotel der Gastgewerbe- und Fremdenverkehrsbranche. Das Viererfeld aber schläft seinen Dornröschenschlaf, als wäre nichts, als wäre nie etwas gewesen.
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