Haben Sie damals gedacht, dass sich in Japan bezüglich Atomfragen so viel bewegen würde? Dass es so schnell ging, und womöglich schon bald der letzte Reaktor vom Netz genommen wird, das hätten wir damals nicht gedacht. Wir hatten unsere Zweifel, weil wir wissen, dass sich viele Japaner nicht offen zu diesem Thema äussern wollen. Es ist bewundernswert, was die Aktivisten aus dem Nichts auf die Beine gestellt haben, und es war eindrücklich zu erfahren, was es bedeutet, sich in Japan gegen die Atomkraft aufzulehnen – gerade im Vergleich zu Deutschland, wo sich die Bewegung schon lange etabliert hat. Begreift man diese Relationen, wird einem klar, wie bedeutend diese Bewegung ist, auch wenn nicht Hunderttausende gleichzeitig auf die Strasse gehen. Man muss aber auch vorsichtig bleiben, weil die Regierung in Tokio offiziell noch immer an der Atomenergie festhält.
Was ist der Anteil von Shiroto no ran an der aktuellen Lage? Shiroto no ran war gerade in den Anfängen von zentraler Bedeutung. Mit ihrem alternativen Modell des bunten, friedlichen Protests haben sie es überhaupt ermöglicht, dass so viele Menschen auf die Strasse gingen. In Japan sind die klassischen Demonstrationen mit Megafon und Geschrei in Verruf geraten, da sie noch heute mit dem radikalisierten politischen Aktivismus der 1960er in Verbindung gebracht werden. Wir haben Shiroto no ran exemplarisch genommen. Es gibt in Japan ganz verschiedene Anti-AKW-Gruppierungen, die alle ihre eigene Geschichte haben. Da gibt es zum Beispiel die Gruppen der Frauen und Mütter, die sich für das Wohlergehen der Kinder engagieren. Im Westen nimmt man diese Demos mehr als Zirkus denn als politischen Protest wahr. Wenn man sich nicht näher damit beschäftigt, wirkt es ein bisschen unverständlich. Man muss verstehen, dass ohne diese Art von Demos in Japan sehr wenige auf die Strasse gegangen wäre. Die Demonstranten sind sehr ernst bei der Sache. Für sie geht es nicht nur um das Problem der Atomenergie. Sie sehen die Katastrophe in einem breiteren sozialen Kontext. Ein Heer von jungen Teilzeitarbeitern kämpft heute um seine Existenzgrundlage, von einer lebenslangen Anstellung können nur noch wenige träumen. Auch in Japan wurde der Kapitalismus an seine Grenzen getrieben. All diese Missstände hängen für diese Menschen zusammen.
Finden die Demonstrationen nur in Tokio statt? In allen Grossstädten finden kleinere und grössere Demonstrationen statt. Da ist ein ganzes Netzwerk entstanden, das sich übers Internet organisiert. Oft finden die Proteste am selben Tag in verschiedenen Städten statt.
Wie steht die Bewegung um Hajime Matsumoto heute da? Nachdem es im September an einer Demonstration zu 13 Verhaftungen kam, geriet Shiroto no ran zwischenzeitlich etwas in den Hintergrund. Sie nahmen sich bewusst etwas zurück, wollten nicht zur führenden Bewegung stilisiert werden. In Japan können Verhaftete 23 Tage ohne Begründung festgehalten werden. Diese Verantwortung wollten sie nicht alleine auf sich nehmen. Sie wollten bewusst nicht als einzige Gruppe wahrgenommen werden. Der Protestbewegung hat dies aber keinen Abbruch getan. Im Februar und März fanden wieder grössere Demos statt.
Wie hat sich Japan nach Fukushima verändert? Es gibt die Tendenz, dass viele Japaner seither Selbstverständlichkeiten infrage stellen. Man glaubt nicht mehr, was in den Medien gesagt wird. Das Hinterfragen, das kritische Denken wurde angeregt. Ich denke, dass wir dies in unserem Dokumentarfilm gut eingefangen haben.