Das grosse Gesehenwerden
Jules Spinatsch hat seine Überwachungskameras am Opernball in Wien installiert. Ein Fest, natürlich. Aber auch: unwillkürliche Schieflagen, gut dokumentiert.
Helmut Berger, der Schauspieler, kam mit roten Zehennägeln, und das sah man, weil er den Knöchel gebrochen hatte und sich hereintragen liess. Sonst aber: keine besonderen Vorkommnisse vorgestern, am Wiener Opernball 2015.
Wie viel Langeweile dort herrscht, wie viel unerfüllte Erwartung, das hat Jules Spinatsch, Fotograf aus Davos, bei einer früheren Ausgabe dieses Kostümfests bewiesen. Er installierte er zwei drehbare Digitalkameras im Saal und liess sie das ganze Ereignis rundum erfassen: Vom Boden bis zur Decke, vom Einlass der 7000 Gäste um 20.32 Uhr bis zum Ende um 5.10 Uhr machten sie alle drei Sekunden ein Bild.
Ergebnis, erstens: das Panorama eines Raums, der auch ein Zeitraum ist, bestehend aus 10'008 Einzelaufnahmen; eine Dreiviertelminute ist auf dieser Seite zu sehen.
Ergebnis, zweitens: die Poesie des Intimen, die im Raster dieser photographie automatique hängen geblieben ist – Lichtspiele, Staubteilchentänze, unwillkürliche Schieflagen im Gemüt der Besucher.
Sehen und gesehen werden? Spinatsch unterwandert dieses Versprechen: Nur das Gesehenwerden ist übrig. Und das ist total.
Jules Spinatsch: Vienna MMIX 10 008/7000. Scheidegger & Spiess, Zürich 2014. 3 Teile, 776 Seiten, etwa 150 Franken.
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