Kinder auf der Flucht verurteilt
Hunderte Minderjährige werden der illegalen Einreise in die Schweiz schuldig gesprochen – rechtlichen Beistand erhalten sie meist nicht.

Sie riskieren ihr junges Leben, um nach Europa zu gelangen. Dann schlagen sich die Minderjährigen, oft völlig auf sich allein gestellt, nach Norden durch. Hier wollen sie sich eine Zukunft aufbauen. Doch für viele Flüchtlingskinder beginnt sie mit einer Verurteilung durch die Schweizer Justiz. Nicht wegen schwerster Straftaten, sondern wegen Verstössen gegen das Ausländergesetz (AuG).
Aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen die Ausmasse. Allein letztes Jahr wurden 493 Minderjährige nach AuG schuldig gesprochen. Das sind dreimal so viele wie noch 2007. Lediglich 3 Prozent der Verurteilten waren Schweizer und Ausländer mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung. Sie wurden zum Beispiel belangt, weil sie anderen bei der illegalen Einreise halfen.
«Es handelt sich vorwiegend um männliche Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren, die meist aus Afrika stammen.»
97 Prozent der jungen Delinquenten waren aber «andere Ausländer», wie es in der Statistik heisst. «Es handelt sich um vorwiegend männliche Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren, die meist aus Afrika stammen», sagt Sandra Peier von den Zuger Strafverfolgungsbehörden. Sie begründet die Zunahme mit den hohen Flüchtlingszahlen der letzten Jahre.
Das Vergehen der Minderjährigen: Sie stellen auf dem Weg nach Norden in der Schweiz kein Asylgesuch. Was Konsequenzen hat, wenn sie in eine Kontrolle geraten. «Personen, die ohne gültige Ausweispapiere reisen, werden durch die Bahnpolizei oder das Grenzwachtkorps in den Zügen angehalten und für die Weiterbearbeitung der Delikte der Polizei übergeben.» Schuldig gesprochen werden sie gemäss Peier in der Regel nach Artikel 115 des Ausländergesetzes: wegen illegaler Einreise und rechtswidrigen Aufenthalts.
Es trifft regelmässig auchKinder unter 14 Jahren
80 Prozent der Verurteilten sind männlich, die meisten mit 17 Jahren fast erwachsen. Jeder achte Schuldspruch trifft aber ein Kind, das 14 oder jünger ist. Vor den Richter kommen die Delinquenten in der Regel nicht: «Weil der Sachverhalt klar ist, erlässt die Jugendanwaltschaft direkt einen Strafbefehl, den sie der Polizei zur Aushändigung an den Jugendlichen übergibt», sagt Sarah Reimann von der Zürcher Oberjugendanwaltschaft. «Im überwiegenden Teil der Fälle wird lediglich ein Verweis ausgesprochen, wobei es sich um die geringfügigste Strafe des Jugendstrafrechts handelt, vergleichbar mit einer Gelben Karte im Fussball.» Sie werde nicht im Strafregister eingetragen. «Aufgrund von Mittellosigkeit in den allermeisten Fällen werden die Verfahrenskosten zudem abgeschrieben», sagt Reimann.
Auch in Zug betont man, dass die Strafen angemessen ausfallen: «Je nach Alter, Verschulden und Länge des illegalen Aufenthalts bewegen sie sich von einem Verweis über eine Arbeitsleistung bis zu einem bedingten Freiheitsentzug von bis zu 15 Tagen unter Ansetzung einer Probezeit», sagt Peier. «Nach Abschluss des Strafverfahrens erhalten die Jugendlichen einen Passierschein sowie ein gültiges Fahrticket nach Chiasso. Dort können sie sich beim Asylzentrum des Bundes melden und werden so ins ordentliche Asylverfahren aufgenommen.»

Ob sie dies denn auch tun, bleibt offen. Genauso könnten die Jugendlichen erneut versuchen, nach Norden zu reisen. Und gelangen allenfalls erneut in eine Kontrolle, was wieder zu einer Verurteilung führen würde.
Hilfsorganisationen kritisieren das Vorgehen. «Wir sprechen von Kindern, die kein Wort Deutsch sprechen», sagt Peter Meier, Leiter Asylpolitik der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Sie erhalten scheinbar keine Rechtsvertretung zur Seite gestellt. Und haben so keine Möglichkeit, den Strafbefehl zu verstehen oder gar anzufechten.» Das Asylgesetz schreibt zwar vor, dass unbegleitete Minderjährige eine sogenannte Vertrauensperson erhalten, die sich für ihre Interessen einsetzt. Allerdings gilt das nur für Kinder, die ein Asylgesuch gestellt haben. Sonst können die Kantone bestimmen, welche Unterstützung ein Flüchtlingskind erhält.
Alle würden über ihre Rechte informiert, sagen die Behörden
«Ohne Asylgesuch wird ihnen keine Vertrauensperson zur Seite gestellt, schon gar kein Verteidiger», sagt Muriel Trummer, Asylrechtsexpertin bei Amnesty International. Das Vorgehen werfe aber auch sonst Fragen auf: «Es kann doch nicht sein, dass Kinder ohne Schutz in einen Zug nach Süden gesteckt werden.»
Die Behörden ihrerseits betonen, dass alle Beschuldigten das Recht auf eine Verteidigung haben. «Jeder Jugendliche – auch jemand ohne Aufenthaltstitel – wird von der Polizei über seine Rechte informiert, einen Anwalt oder eine Vertrauensperson beiziehen zu können», sagt Sarah Reimann von der Zürcher Oberjugendanwaltschaft. «Unseres Wissens wird von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch gemacht.»
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