Wir schweigen einander anHinter dem Bildschirm feiern alle ihr eigenes Fest
Der Sommer ist auch eine Zeit der Begegnungen. Wenn sie nur nicht ständig verhindert würden.

Es ist ein unglaublich heisser, unglaublich schöner, erotisch angehauchter, flirrender Abend. Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés – mit Bistrotischen direkt auf dem Trottoir. Vor mir glimmt ein Fussgängerstreifen in der Abendsonne. Die Ampel steht auf Rot.
Eine junge Frau steht da und wartet darauf, dass es grün werde. Sie hat weisse Knöpfe im Ohr, die vollen, eichhörnchenbraunen Haare fallen wie ein schwerer Vorhang auf ihre zarten, hellen Schultern. Sie trägt schwarze, kurze Leggins, ein weisses, enges Top und hat etwas Entrücktes im Blick, das auch Schüchternheit sein könnte. Ihr Smartphone baumelt vor ihrer Brust an einem schwarzen Band.
Ihr gegenüber, auf der anderen Strassenseite, wartet ein junger Mann. Ihre Blicke suchen und finden sich. Er trägt grosse, silberne Kopfhörer, ein enges, schwarzes Tanktop-Shirt über einer muskulösen Brust und kurze Jeanshosen. Auch seine Haare sind braun und lang, aber zu einem Dutt gebunden. In der einen Hand hält er sein Smartphone, über der anderen Schulter hängt eine grosse Sporttasche.
Ich denke: Wow, sind die beiden schön. Dann wird die Ampel grün.
Beide setzen sich in Bewegung, und als sie noch etwa drei Schritte voneinander entfernt sind, greifen sie zu ihren Smartphones, flüchten sich gleichzeitig in ihre Bildschirme und ja – verpassen sich. Da muss ich an eine kürzlich zurückliegende, ungemein intensive Zugfahrt denken.
Ich bekenne: Ich war angesäuselt. Mehrere Gläser kühlen, trockenen Weissweins und ein Käseplättli hatten den Feierabend lukullisch eingeläutet. Ich war in dieser euphorischen Stimmung, wenn die Arbeit getan ist und das sommerliche Leben sich so wunderbar luftig, zart, unbeschwert anfühlt und man sich selbst gerade sehr leicht und attraktiv empfindet. Und ich tat, was ich sonst nie tue: Ich griff zu meinen Kopfhörern. Normalerweise interessiert mich das Alltagsgewusel eines Zugabteils viel zu sehr, weshalb ich nie Musik höre auf einer Zugfahrt.
Dieses Mal aber feierte ich mein eigenes, privates Fest. Ich flog von Lied zu Lied, fiel von Gefühlsüberschwang zu Hochgefühl wie in einem herrlichen Wellenbad. Ein Höhepunkt war, als mir der Algorithmus «Reason or Rhyme» vom The Bryan Ferry Orchestra abspielte. Es war einer dieser grossen Momente. Einer, den man unbedingt teilen möchte. Ich schaute strahlend, nein, glühend um mich und verstand, dass ich allein feierte, ja, der einzige Gast auf dieser Party war.
Die Frau mir gegenüber mit den schönen dunklen Locken und dem hellen Sommerkleid hatte auch Kopfhörer auf. Die Stirn ans Fenster gedrückt, schaute sie schmunzelnd hinaus. Ich beobachtete sie eine Zeit lang und sah, dass sie immer wieder schmunzelte, einmal hielt sie gar die Hand vor den Mund und lachte innig. Ich verstand: Ihr ging es gleich wie mir. Auch sie hatte ihr eigenes Fest. Ein sehr lustiges Hörbuch muss das gewesen sein.
Wir haben kein Wort miteinander gewechselt.
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