Italiens Reizfigur veröffentlicht intime Memoiren
Matteo Renzi legt ein Buch vor, das wie eine amouröse Avance an seine Landsleute wirkt. Und er hat eine unorthodoxe Idee für den Fall, dass er wieder an die Macht käme.

Wenn Politiker einmal etwas Grosses schreiben wollen, eine wichtige Rede oder gar ein Buch, dann nehmen sie sich normalerweise einen Ghostwriter. Matteo Renzi, Italiens ehemaliger Premierminister und Chef des regierenden Partito Democratico, hat sein neues Buch «Avanti» (Vorwärts) selbst geschrieben. 280 Seiten, auf dem Umschlag das Foto einer gewellten Strasse im Wald. Der Leser hört Renzi förmlich reden, aus jeder Zeile. Seine rhetorischen Ticks, die Kadenz der Tiraden, die florentinische Ironie. Es fehlt nur der toskanische Akzent.
Herausgekommen ist ein Mix aus persönlichen, fast intimen Memoiren und politischem Manifest, mit dem Renzi seinen Anspruch anmeldet, Italien bald wieder zu regieren. Und da die Italiener in weniger als einem Jahr neu wählen, kommt dem Buch eine unmittelbare Bedeutung zu: Es nimmt die Kampagne eines Protagonisten vorweg.
Zunächst blickt Renzi aber zurück auf das «Debakel» des 4. Dezember vergangenen Jahres, die klare Niederlage beim Referendum über seine Verfassungsreform. Sein wahrer Fehler, schreibt er, sei nicht gewesen, dass er die Abstimmung zu einem Plebiszit über seine Person stilisiert habe: «Ich habe zu spät gemerkt, dass andere den Termin politisierten – und das darf einem Politiker nicht passieren.» Die Niederlage habe ihn so stark getroffen, dass er tatsächlich überlegt habe, alles hinzuwerfen und das Leben zu leben, um endlich auch wieder an den Elterngesprächen seiner Kinder in der Schule teilnehmen zu können.
Der Triumph im Debakel
Doch Renzi wäre nicht Renzi, hätte er im Debakel nicht auch einen Triumph erkannt – seinen Triumph. 40 Prozent Ja-Stimmen für seine Reform seien ein grandioses Ergebnis, schreibt er, zumal ja alle gegen ihn gewesen seien. Daraus, und aus den Ermunterungen aus dem Volk, die ihm zuteilwurden, habe er die Überzeugung gewonnen, dass er dem Land noch mehr geben könne. Sehr lange brauchte er freilich nicht für diese Selbstüberzeugung. Seine «tausend Tage» an der Regierung bilanziert Renzi ungewohnt selbstkritisch. Er lobt sich selber für die Arbeitsmarktreform, den «Jobs Act», rügt dann aber die «Buona Scuola», seine eigene und nicht so gut geratene Schulreform. Zwischendurch bedenkt Renzi seine Rivalen aus dem linken Lager, Massimo D'Alema und Pierluigi Bersani, sowie seine Amtsvorgänger Mario Monti und Enrico Letta mit viel Kritik und – er kann es nicht lassen – einer Dosis Häme.
Gänzlich unbescheiden wird er, wenn er schildert, wie sich Italien unter seiner Regie neu und stärker positioniert habe in der Welt. Mit Angela Merkel und vor allem mit Barack Obama stimmte auch die persönliche Chemie. Renzi erzählt, wie Merkel einmal bei einem Treffen seiner Tochter Ester eine SMS geschickt habe, als sich die Bundeskanzlerin gerade mit dem Vater austauschte. Mit Obama mühte er sich schon im Fitnesscenter ab, Schulter an Schulter, auf dem Laufband.

Zuweilen war es aber offenbar nötig, dass er an internationalen Gipfeln hemdsärmelig wurde und mit Vetos drohte. «A testa alta nel mondo», heisst das Kapitel, «Mit erhobenem Haupt in der Welt». Er akzeptiere nicht, schreibt Renzi, dass Italien gemassregelt werde in der Europäischen Union, als wäre es ein «undisziplinierter Schüler». Dass sich Brüssel in jüngerer Vergangenheit oft kulant zeigte gegenüber Rom, geht dabei etwas unter.
Ein garantierter Bestseller
Renzi hat nun eine unorthodoxe Idee, um sich bei der Gestaltung seiner Politik mehr Spielraum zu verschaffen, sollte er an die Regierung zurückkehren. Im Kapitel zu Europa fordert er, dass Italien für die kommenden fünf Jahre ein Haushaltsdefizit von 2,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts eingeräumt werde, eine Dezimalstelle unter dem einstigen Maastrichter Kriterium also und gegen die viel strengeren Abmachungen aus dem Fiscal Compact. Damit soll die Regierung Steuern senken können, was dann unweigerlich zu einem nachhaltigeren Wirtschaftswachstum führen werde. Die Antwort aus Brüssel kam prompt und war scharf. Auch Italiens Wirtschaftsminister distanzierte sich von «diesen Ideen von aussen». Doch das muss Renzi nicht kümmern: Er regiert ja nicht, er macht Wahlkampf.
Der Verlag Feltrinelli, der «Avanti» auf den Markt brachte, will nicht verraten, wie viele Exemplare er für die erste Auflage gedruckt hat. Wahrscheinlich sind es sehr viele. Renzi mag Glanz verloren haben seit seiner Niederlage. In der eigenen politischen Familie halten ihn viele für verbraucht, mit 42 Jahren schon, für einen unbotmässigen Häretiker auch, zu wenig links. Dennoch wird «Avanti» nun wohl an die Spitze der Bestsellerlisten stürmen. Von null auf eins. Lesen werden das Buch auch Leute, denen der Autor nicht sympathisch ist.
Renzi reizt die Italiener im doppelten Sinn: Er verführt sie mit seinem jugendlichen Elan, nervt sie aber auch mit seiner brüsken Ungeduld. Seine Entourage habe ihm geraten: «Matteo, zeig den Leuten eine andere Seite von dir.» Doch ihn interessiere es nicht, wie er wirke. «Ich mime doch nicht plötzlich den Sympathischen», schreibt er. Das Buch kommt trotzdem daher wie ein Flirt, wie eine amouröse Avance des Ex. Im Herbst beginnt Renzi dann seine Tour im Zug, fünf Monate lang quer durch das Land, durch alle 110 Provinzen. Mit der vagen Hoffnung auf eine Rückeroberung.
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