
Zuallererst sind die aus dem Dorf mitgebrachten bösen Geister zu verjagen. Dazu bildet die Gruppe der auffallend klein gewachsenen Menschen auf einem freien Fleck mitten im Urwald einen Kreis um einen Stamm, an dem sie zuvor die Blätter eines Dschungelriesen festgemacht haben. Auf diese schlagen sie nun mit Zweigen ein und lachen, als ob sie die Geister ausser mit ihren Schlägen auch noch mit ihrem Gespött vertreiben müssten. Dann kann es losgehen.
Lautlos spannen junge Burschen aus Lianen-Fasern geflochtene Netze um ein dicht bewachsenes Dschungelareal. Plötzlich geht ein Zetermordio los: «Ouaho, Ouaho», schreien die Männer, «ijeii, ijeii», kreischen die Frauen. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, würde sich jetzt das Netz mit aufgescheuchten Tieren – kleinen Waldantilopen, Buschschweinen oder Mangusten – füllen. Doch hier im Dschungel geht nichts mehr mit rechten Dingen zu: Das Netz bleibt leer. Beim ersten, zweiten und beim dritten Anlauf.
Mit Pfeil und Speer auf Jagd
Für das Missgeschick sei wohl der Tod eines Buben aus dem Dorf verantwortlich zu machen, meint der grauhaarige Bernard Welela. Der Knabe war kürzlich im Sangha-Fluss ertrunken, nachdem er das Schmerzmittel Tramadol zu sich genommen hatte, das in den Dörfern der BaAka als verblüffend billiges Rauschmittel grassiert. Die Geister eines verunglückten Menschen könnten ohne weiteres eine Jagd scheitern lassen, meint Welela. Doch auch er weiss, dass für die leeren Netze weniger der tote Knabe als der tote Wald verantwortlich ist. «Dschengi ist verschwunden», klagt die betagte Kräuterfrau Henriette Memba. Jetzt müssen die BaAka ohne den guten Waldgeist auskommen, der zwischen ihnen und dem mächtigen Gott Komba vermittelt.
Von ihrem Mentor alleingelassen, fristen die einst Pygmäen genannten Waldbewohner in der Dreiländerregion zwischen der Zentralafrikanischen Republik, der Republik Kongo und Kamerun ein trauriges Dasein. Über Jahrtausende hinweg waren sie am nördlichen Rand des Kongobeckens auf geschickteste Weise ihrem halb nomadischen Dschungelleben nachgegangen – jagten ausser mit Netzen auch mit Speeren, Pfeil und Bogen, kletterten auf Bäume, um sich Honig zu holen, und wussten, wo die besten Fruchtbäume standen.
Doch aus den genialen Jägern und Sammlern ist ein verlorenes Völkchen geworden: Vierzig Jahre der Entwurzelung und Entwürdigung haben mit dem physischen auch das psychische Wohlbefinden der untersetzten Waldbewohner ausradiert. Naturschutzorganisationen wie dem Worldwide Fund for Nature (WWF) wird vorgeworfen, ihre westlich ausgerichteten Schutzbemühungen gegen die Interessen der BaAka durchgesetzt zu haben: Die aus ihrer ursprünglichen Umgebung vertriebenen Urbewohner seien wie Unkraut am Wegrand abgeworfen worden, heisst es.
Tatsächlich erweckt Babongo genau diesen Eindruck. Das BaAka-Dorf besteht aus ein paar schiefen Hütten aus Ästen und Gras, in deren Innern nicht mehr als eine Strohmatte und ein vom Feuer geschwärzter Kochtopf zu finden ist. Aus Mangel an Kleidern laufen viele Frauen barbusig herum, während ihre Kinder die hellen Haare und aufgedunsenen Bäuche von Mangelernährten aufweisen. Nicht wenige haben von den Larven der Sandflöhe zerfressene Füsse: Die Plage wird neben der Armut auch der Sesshaftigkeit der einstigen Halbnomaden zugeschrieben.
Ihren Unterhalt verdienen die Einwohner Babongos, indem sie in den Feldern der Sangha-Sangha arbeiten: Den Angehörigen eines Bantu-Volks, die bereits seit Hunderten von Jahren als Fischer an den Flüssen in der Dreiländerregion leben. Für ihre Arbeit verdienen die BaAka kaum einen Franken pro Tag. Kein Wunder, dass es zwischen ihnen und den Sangha-Sangha zu Konflikten kommt. Auch früher waren ihre Beziehungen nicht herzlich, aber zumindest nicht feindselig: Den «Pygmäen» gehörte der Wald, den «Bantus» die Flüsse.
Als Untermenschen betrachtet
Bis Anfang der 70er-Jahre alles aus der Balance geriet. Ausländische Firmen stiessen in die Region vor, um kostbare Tropenhölzer zu fällen. Dazu mussten Strassen in den Dschungel gehauen und Waldarbeiter vor Ort gebracht werden. Die Arbeiter ernährten sich von Wildtieren, die sie mit Gewehren und Fallen erlegten – bald wurde das «Buschfleisch» im ganzen Land verkauft, der Urwald leerte sich. Kein Wunder, dass die Beziehungen zwischen den BaAka und den Waldarbeitern immer miserabler wurden. Die zugezogenen Bantus betrachteten die Pygmäen als durch den Wald streunende Untermenschen, die man bei einem Streit folgenlos über den Haufen schiessen konnte.
In Yondo leben BaAka und Bilos, wie die Bantus hier genannt werden, zusammen. Ihre Kinder besuchen dieselbe Grundschule. In den Klassenzimmern ist auf den Tafeln fein säuberlich der Anteil der Bilo- und BaAka-Kinder vermerkt. Kürzlich sei es wieder mal zu Streit zwischen einem BaAka- und Bilo-Schüler gekommen, erzählen die Eltern. Daraufhin wurde der BaAka-Schüler von der Schule gewiesen. Ihnen wäre es lieber, wenn ihre Schulen und Dörfer getrennt gehalten würden, sagen BaAka-Eltern, ihre Kinder hätten mit der Bildungseinrichtung ohnehin nur Probleme. Sie verfügten oft nicht über Schuluniformen und verpassten immer wieder den Unterricht, wenn ihre Familien für ein paar Wochen mit ihnen im Wald verschwinden. «Anwesend: 5, abwesend: 11», ist als Bilanz des heutigen Unterrichtstags auf der Tafel notiert.
Die Entleerung des Urwalds durch die «Buschfleisch-Mafia» rief in den 80er-Jahren den WWF auf den Plan. Er empfahl der Regierung der Zentralafrikanischen Republik, die Region unter Naturschutz zu stellen, was 1992 geschah. Der WWF arbeitete ein Nutzungskonzept für das gesamte Dreiländergebiet aus, das auf zentralafrikanischer Seite die Etablierung eines voll geschützten Nationalparks – den über 1200 Quadratkilometer grossen Dzanga-Sangha-Park – sowie eine fast dreimal so grosse Pufferzone vorsah. In dieser Zone sollten Holzfirmen auf nachhaltige Weise Bäume fällen und Menschen mit Jagdschein in begrenztem Umfang Tiere schiessen dürfen. Den BaAka war die Jagd auch ohne Schein erlaubt. Allerdings nur noch in der Pufferzone und auf traditionelle Weise – also mit Speeren, Netzen oder Pfeil und Bogen.
Im Nationalpark selbst dürfen die Ur-Waldbewohner seitdem nur noch Kräuter und Früchte sammeln oder an ihren heiligen Orten Rituale zelebrieren. Im Schutzgebiet sollen sich die unter Stress geratenen Tiere erholen können, vor allem die seltenen Waldelefanten und die noch selteneren Flachland-Gorillas. Zwar waren die BaAka damit von ihren besten Jagdgründen abgeschnitten. Doch hätte die Buschfleisch-Mafia weiter die Tierwelt massakrieren können, wären die Jäger und Sammler heute noch viel schlimmer dran, wirft WWF-Mann Johannes Kirchgatter ein.
Bei der Umsiedlung der Waldbewohner seien damals womöglich Fehler gemacht worden, räumt der Afrika-Referent der deutschen Sektion des WWF ein: «Heute würde man gewiss vorsichtiger vorgehen.» Als der Geograf und Biologe vor zehn Jahren mit seiner Arbeit in der Region begann, vegetierten die BaAka bereits in trostlosen Dörfern in der Pufferzone vor sich hin, fanden in der intensiv bejagten Pufferzone kaum noch Tiere, und wer sich bei der Jagd im Nationalpark erwischen liess, wurde festgenommen oder verprügelt. Das über Jahrtausende angesammelte Wissen der BaAka von den Gepflogenheiten der Tiere und der Heilkraft der Pflanzen drohte mit ihren Überlebensstrategien und ihrer einzigartigen Musik verloren zu gehen; die Identität eines der ältesten Völker der Welt stand auf dem Spiel.
Kirchgatter alarmierte den in Deutschland lebenden Peruaner Eduardo Noriega, der ausser im Amazonas-Gebiet auch schon in anderen Teilen der Welt Erfahrungen mit dem Schicksal autochthoner Völker gesammelt hatte. Als der Gründer der Organisation Origi Nations zum ersten Mal in den zentralafrikanischen Urwald kam, stach ihm weniger die unter den BaAka herrschende Armut in die Augen («die habe ich auch anderswo zu Gesicht bekommen») als der Grad der Diskriminierung, dem sich die Waldbewohner ausgesetzt sahen. «Das war hier so extrem wie nirgendwo anders.»
Noriega versuchte, das geschundene Selbstbewusstsein der BaAka zu stärken. Die Jäger und Sammler sollten sich nicht länger nur als machtlose Opfer, sondern als Entscheidungen treffende Subjekte betrachten können. «Das Leben der BaAka wird nie mehr so sein, wie es einmal war», sagt der ausgebildete Architekt: «Die einstigen Waldbewohner müssen in der Welt neue Wege finden.»
Zunächst regte Noriega die Gründung einer Jugendgruppe an, der sowohl Bantus wie BaAka angehören. Hier sollen sie sich gegenseitig und ihre bedrohten Traditionen kennen lernen. Dafür stossen auch erfahrene Älteste zu den Jugendlichen, die ihnen zeigen, wie sie mithilfe einer Liane auf einen 20 Meter hohen Baum steigen, gegen Schlangengift wirkende Pflanzen finden und die Rituale ihrer Vorfahren feiern können.
Béatrice Babona und Line-Adora Konga sind beide 24 Jahre alt, hochschwanger und gehen noch zur Schule. Die kleine Béatrice will später einmal Französischlehrerin werden, die bantu-stämmige Line-Adora träumt von einem Leben als Rechtsanwältin. Die Freundinnen wuchsen in einer Welt auf, in der die Vormachtstellung der hier Bilo genannten Bantus selbstverständlich war: Line-Adoras Eltern hielten eine BaAka-Familie als unbezahlte Hausangestellte; woanders würde man sie Sklaven nennen. Dass Line-Adora die untersetzten Waldbewohner heute als ebenbürtig sieht, hat zweifellos auch mit dem Selbstbewusstsein ihrer Freundin zu tun. «Ich bin stolz, eine BaAka zu sein», sagt Béatrice: «Wir wissen so viel von unserem Wald, dass die Bilos in Wahrheit auf uns neidisch sind.»
Auf den Fährten der Gorillas
Alle BaAka der Ndjima-Kali-Gruppe besuchen die Schule, viele wollen die Matura machen und mal in der Hauptstadt leben. Trotzdem möchten sie ihre Herkunft, Rituale und Gesänge nicht vergessen und wissen, welche Kräuter sie Kindern, wenn sie krank sind, verabreichen können. Auch halten sie die Einrichtung des Nationalparks für eine gute Sache, obwohl ihnen so die Jagdgründe beschnitten wurden. «Anders wäre der Wald vollends zerstört worden», sagt Béatrice. Allerdings kennt die Gymnasiastin auch die Klagen ihrer Landsleute: dass der illegalen Jagd verdächtigte BaAka immer wieder von Wildhütern verprügelt werden, geschützte Elefanten die ungeschützten Felder der BaAka zertrampeln und die ehemaligen Waldbewohner vom ohnehin kümmerlichen Tourismus viel zu wenig profitieren.
Barthelemie Ngabanda hat einen Traumjob ergattert. Der 40-jährige BaAka führt ausländische Forscher und Touristen zu einer der vier an Menschen gewöhnten Gorilla-Familien im Dzanga-Sangha-Park. Dazu muss er den Wald wie seine Handfläche kennen und Spuren lesen können. Letzteres hat ihm sein Grossvater, ein bekannter Gorillajäger, beigebracht. Heute werden die vier an Menschen gewöhnten Gorillagruppen zum Schutz vor Wilderern Tag für Tag von einem Rangerteam begleitet.
Trotzdem kommt es immer wieder zu Jagdvergehen, wie im vergangenen Juni, als der zwölfjährige Gorillaknabe Sosa von einem Wilderer erschossen wurde. Auch auf Elefanten hat es die Busch-Mafia abgesehen. In den vergangenen zehn Jahren brachten Elfenbeinjäger allein im Dzanga-Sangha-Park mehr als 100 Dickhäuter um. Die BaAka dienen den Schlächtern oft als Tracker: Manchmal werden sie regelrecht dazu gezwungen, manchmal mit minimalen Geldbeträgen geködert. Der berüchtigte Wilderer-Pate Kabila wurde im vergangenen Jahr im Beisein von zwei BaAka-Spurensuchern festgenommen, die für ihre Dienste drei Dollar und zwei alte Hosen bekamen. Für die Stosszähne eines Waldelefanten werden auf dem Schwarzmarkt gut 400 000 Dollar bezahlt.
Er werde um seinen Beruf von allen beneidet, fährt Ngabanda fort. Schliesslich kann er sich den ganzen Tag im Wald aufhalten und bringt sogar noch Geld mit nach Hause. Sie wollten keinesfalls, dass die Naturschützer verschwinden, widerspricht Gabriel Mabeli, BaAka-Bürgermeister von Mossapoula, einer von der Londoner Organisation Survival International in die Welt gesetzten Behauptung: «Wir wollen vielmehr, dass der WWF uns mehr Jobs verschafft.»
Immerhin hat WWF-Mann Kirchgatter ein Menschenrechtsbüro eingerichtet, an das sich von Wildhütern misshandelte BaAka wenden können. Bald soll eine mobile Gesundheitsstation durch die zwölf in der Schutzzone liegenden Dörfer rollen, um unter anderem den Kampf gegen die Sandflöhe aufzunehmen. Schliesslich könnten auch mehr Tracker einen Job bekommen, wenn endlich mehr Touristen in den Dschungel kämen. Für Kirchgatter wäre es unerträglich, sollten ausgerechnet jene, die Tausende Jahre das grüne Paradies am Leben erhielten, unter dessen Schutz am meisten leiden: «Wir schulden den BaAka eine ganze Menge.»
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In den verlorenen Jagdgründen der Pygmäen
Die kleinwüchsigen BaAka sind eines der ältesten Völker der Welt. Nun steht ihre Identität auf dem Spiel, weil der Regenwald abgeholzt wird. Aber auch, weil ein Nationalpark errichtet wurde.