Literaturfest AprillenImmer dieses Begehren und diese Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Das Berner Lesefest Aprillen begeht das 10-Jahr-Jubiläum mit einer eigenen Publikation, einer Staffellesung und einer Hommage an eine Berner Lyrikerin.

Das Begehren und die Sehnsucht nach einer Verschmelzung mit dem anderen, sei es über die körperliche Vereinigung oder als Seelenfreundschaft: Sie sind die mächtigen Antriebsfedern von drei Texten, die sich das Lesefest Aprillen zum 10. Geburtstag schenken lässt.
Kim de l’Horizon («Blutbuch») erzählt im Text «An die Person, die meinen Abfallsack nicht durchwühlt» von Lee, die sich in ihrer Wohnung verschanzt, in schlaflosen Nächten Briefe an Nachbarn schreibt und sie in den Abfallsack steckt, in der Hoffnung, dass etwa die «schöne Person mit dem Schwalbentattoo» im Haus gegenüber ihren Abfall durchwühlt und Kontakt aufnimmt.
Christoph Geiser erinnert sich in seinem von poetischer Drastik grundierten Beitrag an die Schwulenszene auf dem «Ölberg», rund um den Berner Pavillon auf der Kleinen Schanze. Sara Elena Müller schliesslich, kürzlich mit ihrem Debütroman «Bild ohne Mädchen» hervorgetreten, skizziert in «Best Friends forever» mit messerscharfen Sprachbildern Szenen einer Mädchenfreundschaft, die ewige Verbundenheit beschwört und sich doch unausweichlich dem Ende zuneigt.
Kim de l’Horizon, Christoph Geiser und Sarah Elena Müller gehören zu den zehn Autorinnen und Autoren, die das Berner Lesefest im Rahmen einer Staffellesung in zehn verschiedenen Lokalitäten eröffnen. In Zusammenarbeit mit der Abschlussklasse «Illustration Fiction» der Hochschule Luzern und dem Verlag Edition Moderne hat Aprillen mit den zehn Originalbeiträgen auch ein Magazin herausgegeben.

Spannung verspricht die gesellschaftspolitische Reihe «Kontinentaldrift» zu Fragen der Identität und Herkunft. Der Name ist inspiriert von Fiston Mwanza Mujila und seiner Anthologie «Kontinentaldrift. Das Schwarze Europa». Der Autor wurde in der Demokratischen Republik Kongo geboren und lebt heute in Graz. Schauplatz seines Debütromans «Tram 83» ist eine fiktive Minenstadt im Kongo und deren pulsierendes Zentrum, ein Nachtlokal, in dem sich Gewinner und Verlierer, Prostituierte und ehemalige Kindersoldaten treffen.
Schätze im Sprachbergwerk
Als «Schweizerin of color» in einer binationalen Familie aufgewachsen, verhandelt Samira El-Maawi in ihrem Debütroman «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel» (2020, Zytglogge-Verlag) Themen wie Alltagsrassismus und Zugehörigkeit aus der Perspektive einer zehnjährigen Icherzählerin. Bruno Ziauddin, Chefredaktor des «Magazins» und Sohn eines Inders und einer Schweizerin, hat sich mit seiner autobiografischen Familienerzählung «Curry-Connection» (Rowohlt) und seiner Essaysammlung «Woher kommst du – Identitätsfragen und andere Zumutungen» (essais agités) einen Namen gemacht.

Traditionell stark vertreten ist beim Literaturfest Aprillen die Lyrik. Eine besondere Hommage erfährt die 2021 verstorbene Berner Lyrikern Andrea Maria Keller. Die 1967 in Appenzell geborene Keller hat ein schmales Werk (zuletzt 2018: «Vielstimmig») hinterlassen, bemisst man es an der Anzahl Publikationen. Gewichtig indes ist es, wenn man ihre geballte Ausdrucksintensität und ihre zuweilen fast somnambule Hellsichtigkeit bedenkt: Der Liebe «tagelohn», schrieb sie einmal, sei nicht zu beziffern, «denn sie öffnet / manche ihrer schätze / denen nur / die im frondienst / sich / in ihr bergwerk trauen».
Das Sprachbergwerk der Andrea Maria Keller wartet noch mit anderen Funden auf. 2015 veröffentlichte sie unter dem Titel «Tagediebesgut» eine kleine Box mit 99 Karten. Auf jeder Karte steht ein Wort, meist eine Zusammensetzung zweier an sich bekannter Wörter, die fusioniert ungeahnte, mitunter explosive semantische Energien freilegen – wie etwa die «Luftschlossgärtnerinnen».
Unter diesem Titel feiern die beiden Pianistinnen Eva Schwaar und Stefi Spinas sowie die Schauspielerin Michaela Wendt in einem fulminanten Wort-Klang-Spektakel die Lebendigkeit und den Humor von Andrea Maria Kellers Lyrik.
Schlachthaus-Theater, Mi, 12.4., bis Sa, 15.4. Programm: www.aprillen.ch
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