Im Schatten der Brücke
In keiner Schweizer Stadt nehmen sich so viele Menschen durch Brückensuizid das Leben wie in Bern. Heute Donnerstag debattiert der Stadtrat über eine allfällige Sicherung der Berner Brücken.

Der Schwellenmätteli-Abwart Christian Bauer weiss, was passiert ist, wenn er ihn wieder hört: diesen dumpfen Ton. Und danach ein Zischen, fast so, als entweiche die Luft aus einem Ball. Bauer führt keine Liste wie die Kantonspolizei. Aber er ist überzeugt, dass die offiziellen Zahlen nicht stimmen können, die besagen, dass sich seit 2004 elf Menschen von der Kirchenfeldbrücke aus das Leben genommen haben. Bauer vermutet, dass sich durchschnittlich jeden Monat jemand von der über 40 Meter hohen Eisenbrücke stürzt, die seinen Arbeitsplatz und seine Wohnung überspannt. Oft ist er der erste vor Ort und derjenige, der die Leiche mit einem Tuch zudeckt und der Sanität das Tor zum Rasenfeld öffnet. Der Vorgänger hielt es nicht ausEs waren manchmal schreckliche Bilder, die er in den letzten fünf Jahren gesehen hat. Bauer verdrängt sie oder versucht es zumindest. «Sonst ertrage ich diesen Job nicht», sagt er. Sein Vorgänger kündete die Stelle nach nur zwei Jahren. Grund: die häufigen Suizide.In diesem Jahren zählte die Kantonspolizei bereits sieben Fälle, fünf davon hat Abwart Bauer selbst miterlebt. Beim letzten Mal, es geschah vor wenigen Wochen, da sprang ein Mann auf die Sandbahn. Der Aufprall war heftig. Eine Stunde lang habe er versucht, die Bahn mit Wasser zu reinigen, erzählt Bauer. Die Blutspuren waren dennoch kaum wegzukriegen, und sie entgingen auch den Schülern nicht, die am nächsten Tag im Schwellenmätteli Turnunterricht hatten. Er ist bemüht, die Spuren möglichst rasch zu beseitigen. Auch Trauerkränze und Blumen entfernt er. «Angehörige sind deswegen manchmal wütend auf mich», erzählt Bauer. Aber es dürfe nicht sein, «dass die Schüler zwischen Blumen und Kreuzen einen ,Zwölfminüteler‘ rennen müssen». In den fünf Jahren, in denen er den Posten im Schwellenmätteli innehabe, seien immer wieder Fachleute und Behörden gekommen, die sich des Themas angenommen hätten. «Sie haben mich befragt, die Brücke ausgemessen, Modelle gezeichnet», sagt Bauer mit zynischem Unterton. «Und ich naiver Mensch habe gedacht, dass es eine Frage von zwei Wochen sei, bis endlich Netze aufgespannt werden.» Bauer hat sich getäuscht: Passiert ist nichts. Um sich selber zu schützen, werde er sich in der Sache nicht engagieren – zu sehr würde er sich aufreiben, glaubt der ehemalige Automechaniker. Aber die letzten Jahre haben sein Bild von der Politik geprägt: «Es hat mir gezeigt, wie wenig ein Menschenleben wert ist.»Inzwischen ist aber Bewegung in die Sache gekommen. In der Lobbygruppe Kikolo, die eine breit abgestützte Kampagne gestartet hat, engagiert sich auch Ruth Raaflaub (siehe Kasten). Es sei schon gut fünf Jahre her, seit sie zum ersten Mal den Kontakt zur Berner Regierung gesucht habe, erzählt die quirlige Turnlehrerin, die für die FDP im Muriger Parlament sitzt. Seither hat sie sich immer wieder in der Sache engagiert, auch bei der Schulleitung und im Kollegium – vergeblich. Nun macht Raaflaub einen neuen Anlauf, um Gehör zu finden. Unterstützung erhält sie von einem Arbeitskollegen. Anfang Monat hat der Turnlehrer Oliver Hiller unmittelbar einen Suizid mitbekommen. Nur weil er vorausgejoggt war, vermochte er zu verhindern, dass seine Klasse die erschütternde Szene miterlebte. «Das Ereignis hat mich stark beschäftigt», sagt Hiller. Nun schaue er mehrmals hoch zum Brückengeländer, wenn er eine Lektion auf dem Rasenfeld abhalte. Brief vom Rektorat an TschäppätRaaflaub und Hiller haben erreicht, dass sich das Rektorat in einem Brief an Stadtpräsident Alexander Tschäppät (sp) gewendet hat. Darin bittet Rektor Thomas Balsiger dringend, «nun rasch zu handeln und Massnahmen zu treffen, wie sie z.B. bei der Münsterplattform wirkungsvoll umgesetzt wurden». Wahrscheinlich müsse zuerst jemand einem Schüler auf den Kopf fallen, bevor etwas passiere, ärgert sich Abwart Bauer. Er selbst hat einst eine Situation erlebt, in der eine Person nur etwa fünfzehn Meter hinter ihm auf den Rasen geprallt sei. «Eine halbe Minute zuvor stand ich noch an jener Stelle.» Auch sei es schon passiert, dass eine Klasse Fussball gespielt habe, als sich jemand auf das Feld gestürzt habe. Ohnehin ein Sicherheitsproblem seien die vielen Gegenstände, die hinuntergeworfen würden.Appell an SuizidgefährdeteMenschen, die einen Suizid miterleben müssten, würden psychisch enorm belastet, sagt Raaflaub. Und sie sagt das auch den Menschen, die suizidal gefährdet sind. «Wer auf einer Brücke steht, sollte bedenken, dass er nicht nur sich, sondern auch anderen schadet.»
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